Die paralympischen Winterspiele im russischen Sotschi werden am Freitag eröffnet. Es sollte ein fröhliches Fest des Behindertensports werden. Doch die Krim-Krise wirft einen Schatten darauf.
Sotschi - Am 29. Oktober 2013 ist der temporäre Weltfrieden beschlossen worden. Die Vereinten Nationen haben an diesem Tag in New York auf ihrer 68. Sitzung die Resolution „A/68/L.8“ verabschiedet. Darin wurden alle Nationen der Erde gemäß der antiken olympischen Tradition aus Griechenland, dem „Ekecheiria“, aufgerufen, kriegerische Handlungen im Zeitraum von sieben Tagen vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Sotschi bis sieben Tage nach Ende der Paralympics einzustellen – ein weltweiter Waffenstillstand also vom 1. Februar 2014 bis zum 23. März 2014.
Olympischer Frieden nennt sich das Ritual, das sich alle zwei Jahre vor dem sportlichen Großereignis wiederholt. Ebenso ist es Tradition, dass die Konflikte unvermindert weitergehen – oder erst losgehen wie jetzt auf der Krim. Und damit ist er perfekt: der paralympische Unfrieden. Heute will sich die Russische Föderation, welche die UN-Resolution damals auch unterzeichnet hat, der Welt bei der Eröffnungsfeier der Paralympischen Winterspiele in Sotschi als guter Gastgeber präsentieren. Wladimir Putin wird selbstredend vor Ort sein.
Viele Absagen von Politik-Vertretern
Doch die Vorstellung, angesichts der Krim-Krise Teil eines fröhlichen paralympischen Paralleluniversums zu sein und sich feiern zu lassen, fällt nicht nur vielen Athleten schwer – zahlreiche Vertreter der Politik haben vor diesem Hintergrund ihren Besuch in Sotschi abgesagt. Die Mannschaft der Ukraine denkt ebenfalls noch über einen Boykott nach; Verena Bentele, die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, hat ihren Besuch gecancelt. Dies sei ein klares „politisches Zeichen an Russland“, sagte sie. Das Auswärtige Amt erklärte: „Wir empfehlen, in der jetzigen Situation nicht, mit einer hochrangigen politischen Delegation zu den Winterspielen nach Sotschi zu fahren.“ Das für Sport zuständige Innenministerium wiederum lässt seine Reisepläne noch offen. Auch Forderungen nach einem Boykott der Athleten über eine Verschiebung bis hin zu einer Absage der Spiele waren und sind zu vernehmen.
Die Paralympics sind zwischen die politischen Fronten geraten. Schon die Olympischen Winterspiele waren von vielfältigen Debatten begleitet. Es ging um Menschenrechte, Diskriminierung, Umweltzerstörung und Putins Propaganda. All diese Probleme sind geblieben, auch wenn die Paralympics im Vergleich zu Olympia weitaus weniger Strahlkraft und damit weniger Ablenkungspotenzial haben.
Die Unbeschwertheit ist dahin
Angesichts des Konflikts in der Ukraine und der Gefahr einer militärischen Eskalation erscheint die Vorstellung jedenfalls merkwürdig bis bizarr, dass nun in Sotschi die besten behinderten Wintersportler des Planeten ein unbeschwertes Fest feiern wie 2012 in London. Was also tun?
Die olympischen Athleten wurden von Funktionären durch die Wahl des Austragungsortes und der vorhersehbaren Folgen unverschuldet in Not gebracht – die knapp 600 paralympischen Athleten trifft jetzt auch noch die Krim-Krise mit voller Wucht.
Der deutsche Behindertensportverband erwartet klare Aussagen vom Dachverband der paralympischen Bewegung, also Missfallensbekundungen über das Verhalten des Gastgebers im Ukraine-Konflikt. Der verdienstvolle Chef des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), Philip Craven, sagt nur, er erwarte „großartige“ Spiele in Sotschi. Und: „Wir sind uns voll und ganz bewusst, was andernorts passiert und werden die globale Politik den Politikern überlassen. Wir sind für den Sport hier. “ Es ist der Klassiker des Sportfunktionärsjargons: der Sport den Sportlern – die Politik den Politikern. Ist das die Antwort auf all die Fragen, die auf den Sport in diesen Tagen einprasseln? Lassen sich in der Realität wirklich so einfach scharfe Grenzen ziehen? Wegducken und Rückzug in ein Potemkin’sches paralympisches Dorf mit einer Fassade aus Sport? Wir wollen doch nur spielen?
Das Paralympische Komitee eiert herum
Wie seit Jahren das Internationale Olympische Komitee (IOC) in solchen Fragen laviert, eiert nun das IPC. Benteles Absage kommentierte Craven so: „Das ist sehr enttäuschend für mich. Die Regierung versucht, diese Spiele zu überschatten.“ Man beobachte die Situation genau. „Die Sicherheit und das Wohlbefinden der Athleten und Offiziellen genießen unsere Priorität.“ Sotschi ist sicher. Das beteuern alle, und Stand jetzt stimmt das wahrscheinlich auch. Aber geht es wirklich nur darum? Oder geht es tatsächlich nicht um viel mehr? Um Haltung? Andererseits: was wird erwartet?
Die Athleten wollen sich vor allem auf den Sport konzentrieren, deswegen sind sie in Sotschi. Es ist ihre Chance, der Welt ihr Können zu präsentieren. Vier Jahre haben sie warten müssen, um die Nische zu verlassen, in der sich der Behindertensport zwischen den Spielen meist befindet. Nun da der Tag gekommen ist, sind sie auf gewisse Art einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. „Die Freude ist sicherlich getrübt durch die Ereignisse auf der Krim“, sagt zum Beispiel die deutsche Ski-Langläuferin Andrea Eskau. „Wir haben das Weltgeschehen im Blick und werden es gerade da unten auch nicht aus dem Blick verlieren.“
Kluge Antworten wären gefragt
Das IPC konnte sich bisher, etwa in Peking 2008, bei heiklen politischen Debatten auch auf die Position zurückziehen, dass es quasi vom IOC in Geiselhaft genommen wurde, weil die Paralympics am gleichen Ort wie Olympia ausgetragen werden und das IPC wenig Einfluss auf die Wahl hat. In Sotschi ist die Lage allerdings komplizierter, weil die aktuelle Entwicklung eine eigene Meinung zu Problemen abverlangt, die dem IOC erspart geblieben ist. Erstmals sieht sich das IPC nun nicht nur mit gesellschaftspolitischen Fragen wie der Inklusion oder der Situation von Behinderten in den jeweiligen Ländern konfrontiert, sondern mit hochpolitischen. Und wie man bei Präsident Philip Craven sehen kann, tut es sich schwer, kluge Antworten zu finden.
Das IPC verkündet lieber stolze Rekorde für Sotschi, sowohl bei den TV-Stunden als auch bei den erwarteten Zuschauern, dazu so viele Teilnehmer wie noch nie – aber die Unbeschwertheit der vergangenen Jahre ist ausgebremst. Es sind Spiele im Schatten des paralympischen Unfriedens.