Die Krimiautorin Val McDermid schreibt seit Jahrzehnten Bestseller. Im Interview erzählt sie von der Leichenbeschau im alten China, ihrem neuen Buch „Anatomie des Todes“ und warum sie der Forensik ihren Beruf verdankt.

Edinburgh - Die Romane Val McDermids werden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Die 1955 im schottischen Kirkcaldy geborene Autorin war viele Jahre als Dozentin für englische Literatur und als Journalistin tätig, bevor ihr der internationale Durchbruch gelang. 2010 erhielt sie für ihr Lebenswerk die höchste Auszeichnung für Kriminalliteratur in Großbritannien, den „Diamond Dagger“. In ihrem neuen Buch „Anatomie des Verbrechens“ (Knaus) geht sie zum ersten Mal realen Verbrechen auf den Grund. McDermid schildert die Methoden der Forensik von ihren Anfängen bis an die Grenzen künftiger Technologie.

 
Ms McDermid, Ihr neues Buch liest sich wie eine Liebeserklärung an die forensische Wissenschaft. Was haben Sie ihr zu verdanken?
Sehr viel. Die Geschichte der forensischen Kriminaltechnik bietet Stoff für Tausende von Kriminalromanen. Um es ganz klar zu sagen: Nur weil es die Anwendung der Wissenschaft zur Aufklärung von Verbrechen überhaupt gibt, kann ich einer gewinnbringenden Tätigkeit nachgehen.
Sind denn nicht Fantasie und Kreativität der Hauptgrund für Ihren Erfolg?
Nicht unbedingt. Wir Krimiautoren behaupten ja gern, unser Genre habe seine Wurzeln in den entlegensten Winkeln der Literaturgeschichte. Wir sehen Vorläufer in der Bibel: den Betrug im Garten Eden, der Brudermord von Kain verübt an Abel, der Totschlag bei König David, der Urija ermorden ließ. Wir versuchen uns einzureden, dass Shakespeare einer der Unseren gewesen sei.
War er das denn nicht?
Nein. In Wahrheit ist es so, dass die Kriminalliteratur erst mit einem Justizsystem beginnt, das sich auf Beweise stützt. Und das ist es, was die Pioniere dieser Wissenschaft und der Kriminaltechnik uns hinterließen. Ich möchte mit meinem neuen Buch zeigen, dass das Engagement der Forensiker erfinderisch, vorurteilslos und von akribischer Ehrlichkeit ist – und das im Interesse der Gerechtigkeit für uns alle. Die Recherche hat mir wieder zu Bewusstsein gebracht, was ich schon seit Langem wusste. Die Arbeit der Wissenschaftler ist immer wieder höchst faszinierend, und die Menschen, die sich mit ihr beschäftigen, sind absolut fantastisch.
Wann war die Geburtsstunde der Forensik?
Er war ein langer, fließender Prozess. Schon vor mehr als 750 Jahren wurde von einem chinesischen Beamten namens Song Ci ein Handbuch für Leichenbeschauer mit dem Titel „Aufzeichnungen zur Tilgung von Ungerechtigkeit“ angefertigt. Es enthält das erste überlieferte Beispiel für forensische Entomologie – die Nutzung der Insektenkunde zur Aufklärung eines Verbrechens.
Welchen Einfluss hatte dieses Buch?
Mehr als 700 Jahre lang wurde es immer wieder aktualisiert und nachgedruckt. Noch im vergangenen Jahrhundert trugen chinesische Beamte es an Tatorten bei sich. Als im frühen 16. Jahrhundert die ersten portugiesischen Händler China erreichten, waren sie beeindruckt davon, wie zögerlich die Gerichte dort waren, einen Menschen ohne eingehende Untersuchung zum Tode zu verurteilen.
In welcher Phase hat sich die Forensik am intensivsten entwickelt?
Das spärliche Rinnsal wissenschaftlicher Entdeckungen im 18. Jahrhundert wuchs mit dem 19. Jahrhundert zu einer regelrechten Flut heran, die bald weit über den Labortisch hinaus praktische Anwendung fand. Die Idee von so etwas wie polizeilicher Ermittlungsarbeit begann sich gerade erst durchzusetzen, weswegen so mancher der frühen Kriminalbeamten eifrig bemüht war, Beweise zu finden, die seine Theorien zu den aufzuklärenden Verbrechen stützten. Erst ganz allmählich ermöglichten es forensische Vorgehensweisen, in alle Richtungen zu ermitteln.
Bitte nennen Sie ein Beispiel für einen dieser historischen Ermittlungserfolge.
Im Jahr 1794 wurde Edward Culshaw durch einen Kopfschuss mit einer Pistole ermordet. Damals waren Pistolen Vorderladerwaffen, und ein Pfropfen aus zusammengeknülltem Papier wurde in den Lauf gestopft, um die Kugeln und das Schießpulver dort zu halten. Als der Chirurg die Leiche untersuchte, fand er diesen Pfropfen in der Kopfwunde. Er faltete ihn auseinander, und es zeigte sich, dass es die abgerissene Ecke eines Flugblatts war. Dieser Fall brachte erstmals die Pathologie mit dem zusammen, was wir heute Dokumentenprüfung nennen
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Morde mit Arsen früher noch nicht aufgeklärt werden konnten, wenn die Giftspuren zu gering waren. Wann änderte sich das?
Der britische Chemiker James Marsh war 1832 Gutachter bei einem Mordprozess gegen einen Mann, der offenbar seinen Großvater mit Arsen im Kaffee vergiftet hatte. Marsh konnte beweisen, dass der Kaffee Arsen enthielt. Aber als er dies den Geschworenen vorführen wollte, war die Probe verdorben. Marsh war jedoch ein echter Wissenschaftler, und ein solcher Misserfolg spornte ihn noch mehr an, einen besseren Test zu entwickeln. Dieser war so leistungsfähig, dass man damit selbst eine winzige Spur Arsen finden konnte. Auf ihn war es schließlich zurückzuführen, dass so mancher viktorianische Giftmörder am Galgen endete, der nicht mit der forensischen Wissenschaft gerechnet hatte. Der Test wird auch heute noch verwendet.
Wie wichtig ist die Schilderung forensischer Arbeit für Ihre Romane?
Die Technologie kann das Sprungbrett für einen Fall sein, sie darf aber nie im Mittelpunkt eines Romans stehen. Das müssen meiner Meinung nach immer die Menschen sein, die Figuren, ihr Leben und ihre Gefühle. Exaktheit in der Schilderung der Wissenschaft halte ich für weniger wichtig, aber auf Authentizität lege ich schon großen Wert.
Was hat Sie bei der Recherche am meisten beeindruckt?
Die Integrität, der Einfallsreichtum und die Großzügigkeit der Wissenschaftler. Sie beschäftigen sich tagtäglich mit den dunkelsten und erschreckendsten Aspekten menschlichen Verhaltens. Wie Niamh Nic Daeid (Professorin für Forensik an der Universität Dundee, die Red.) sind sie bereit, nach einem schweren Brand Stunden in durchnässten Trümmern zu verbringen. Wie der Forensiker Martin Hall sammeln sie Maden von einer halb verwesten Leiche, oder wie Caroline Wilkinson rekonstruieren sie das Gesicht eines verstümmelten Kindes. Sie bringen Opfer, damit wir in dem Wissen leben können, dass man die Täter zur Rechenschaft ziehen wird.