Mithilfe neuer Verfahren können Ermittler selbst alte, ungeklärte Fälle lösen. Wissenschaftler warnen jedoch vor einer allzu großen Technikgläubigkeit.

Kufstein - Walter Pupp hatte die Hoffnung schon aufgegeben. „Wir hatten nicht mehr geglaubt, dass dieser Fall gelöst werden würde“, sagt der Leiter des Tiroler Landeskriminalamts. Über drei Jahre hatten er und seine Kollegen versucht, den Tod der französischen Austauschstudentin Lucile K. aufzuklären. In der Nacht zum 12. Januar 2014 hatte ein unbekannter Täter die junge Frau im österreichischen Kufstein ermordet. Die Tatwaffe, eine Metallstange, fand man im Inn.

 

In der betreffenden Nacht hatte es geregnet – keine guten Voraussetzungen, eine Hinterlassenschaft des Täters zu finden. An der Leiche stellten die Kriminaltechniker schließlich doch DNA-Material sicher. Doch die Qualität der Spur war so schlecht, dass sie in keine Datenbank eingespeist werden konnte. Allein der direkte Vergleich mit einem Verdächtigen hätte einen Treffer erzielen können. Anfang 2017 erfuhren die Tiroler Kriminalisten dann vom Mord an der Joggerin Carolin G. im badischen Endingen. Beide Tatmuster wiesen eine frappierende Ähnlichkeit auf: junge Frau, scheinbar Zufallsopfer, ermordet an einem Sonntag in der Nähe der Autobahn. Folglich begannen beide Mordkommissionen zusammenzuarbeiten. Ihre Theorie: Da als Tatwerkzeug eine Eisenstange benutzt wurde, die zum Kippen von Lkw-Kabinen benutzt wird, könnte es sich um einen Fernfahrer handeln.

Ein gelungenes Beispiel für Rasterfahndung

Was dann folgte, war ein Paradebeispiel der Rasterfahndung. Zunächst ordnet die österreichische Polizei die Tatwaffe einem bestimmten Lkw-Modell zu. Dann beginnt sie damit, rund 50 000 Maut-Datensätze auszuwerten. Ermittler schreiben zahlreiche Speditionen an, um an Personalakten zu gelangen. Hinzu kommen: Handy-Daten, ein Phantombild sowie die sichergestellte DNA-Spur. Nach mehreren Monaten akribischer Arbeit schnappt die Falle zu: Anfang Juni verhaften Polizisten einen 40-jährigen Lkw-Fahrer in Freiburg. Er sitzt seither in Untersuchungshaft.

Dass ein Verbrechen nach so langer Zeit noch aufgeklärt wird, ist kein Einzelfall. Immer wieder kommt es vor, dass die sogenannten Cold Cases durch einen neuen Ermittlungsansatz, eine neue Spur oder ein neues technisches Hilfsmittel plötzlich wieder heiß werden. „Viele Fälle, die wir vor 30 Jahren nicht lösen konnten, lassen sich heute möglicherweise noch aufklären“, sagt Ulf Küch, Kripochef in Braunschweig und Vizechef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). „Uns stehen heute sehr viel feinere Möglichkeiten zur Verfügung, um etwa Blut oder Speichel zu analysieren“, ergänzt Küch. Da Mord in Deutschland nie verjährt, können Verdächtige auch Jahrzehnte später noch dingfest gemacht werden – vorausgesetzt, es existiert überhaupt eine alte Spur. „Da werden wir aber deutlich besser“, sagt Küch. „In den letzten Jahren haben wir umfangreiche Datenbanken aufgebaut.“

Steven Baack, der Leiter der Hamburger Cold-Case-Unit, vergleicht seine Arbeit mit einer Zeitreise. „Es geht nicht um mögliche Fehler in den alten Ermittlungen, sondern um eine neue Betrachtungsweise“, erklärt Baack. So könnten eben nicht nur DNA-Spuren zum Erfolg führen, sondern auch Zeugen, die damals mit dem Täter befreundet waren, dies aber inzwischen nicht mehr sind – oder die einfach ihr Gewissen erleichtern wollen. „Selbst wenn sich am Ende unserer Ermittlungen herausstellt, dass ein Verdächtiger schon tot ist, war unsere Arbeit trotzdem nicht vergebens“, meint Baack. „Denn dann können die Angehörigen wenigstens einen Schlussstrich ziehen.“

Per DNA-Analyse kann man auch die Augenfarbe des Täters bestimmen

Beim Blick in die Vergangenheit hilft vor allem aktuelle Technik, doch sie ist kein Allheilmittel. „DNA-Analyse bewertet kein Verhalten“, meint etwa Andreas Müller, ein langjähriger Profiler beim Landeskriminalamt in Düsseldorf. „Wenn Sie wissen wollen, warum jemand fünfmal auf ein Kind einsticht, hilft Ihnen keine Software.“ Dementsprechend zurückhaltend äußert sich Müller zur Rasterfahndung. Diese sei „enorm aufwendig, aber fehlerbehaftet“. Mit der erweiterten forensischen DNA-Analyse, bei der auch die Haar- oder Augenfarbe aus der DNA herausgelesen werden darf, steht der Polizei aller Voraussicht nach demnächst ein weiteres Instrument zur Verfügung. „Doch die Vorhersagen sind im Anwendungsfall längst nicht so genau, wie es in den Gesetzesinitiativen behauptet wird“, sagt Veronika Lipphardt, Professorin für Wissenschaft und Technik am University College der Uni Freiburg. Zudem ließen sich Ermittlungen kaum sinnvoll fokussieren, wenn das Ergebnis auf eine Mehrheit hinweise, etwa auf einen braunhaarigen, blauäugigen Täter mitteleuropäischer Herkunft.

Die erweiterte forensische DNA-Analyse könnte dazu führen, dass sich Ermittler überproportional oft – und zu Unrecht – auf Minderheiten konzentrieren. Dass das gehörig nach hinten losgehen kann, zeigt das Beispiel des „Heilbronner Phantoms“: Nach dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im Jahr 2007 hatten Ermittler DNA-Spuren am Tatort sichergestellt. Da die DNA bundesweit an weiteren Tatorten auftauchte, vermuteten die Beamten eine hoch mobile, womöglich aus Osteuropa stammende Frau. Später stellte sich heraus, dass die bei der Spurensuche verwendeten Wattestäbchen verunreinigt gewesen waren. Die DNA stammte von einer Mitarbeiterin des Stäbchen-herstellers – für den Polizistenmord war die NSU-Terrorzelle verantwortlich.

Was darf die Polizei?

Auch beim Cold Case der ermordeten Austauschstudentin in Kufstein wird die Kontroverse um polizeiliche Befugnisse deutlich. In Österreich durfte das Landeskriminalamt die Lkw-Mautdaten auswerten, wodurch die Beamten dem Täter auf die Schliche kamen. In Deutschland ist die Erstellung solcher Bewegungsprofile verboten, um eine Totalüberwachung der Bevölkerung zu verhindern. Doch das Ringen um erlaubte und unerlaubte Ermittlungsmethoden ist längst nicht vorbei. Kaum hatten die deutschen und österreichischen Beamten ihre Erkenntnisse vorgestellt, trat der Bürgermeister von Endingen vor die Presse. Er freue sich über das aufgeklärte Verbrechen, sagte der CDU-Politiker. Nur eine Sache wolle er noch loswerden: dass Polizisten in Deutschland nicht die gleichen Befugnisse hätten wie ihre europäischen Kollegen, das störe ihn doch gewaltig.

Hartnäckige Kriminalisten

Spezialeinheiten

Um alte Fälle neu aufzurollen, haben mehrere Bundesländer sogenannte Cold-Case-Units (Einheiten für „kalte Fälle“) gegründet, die sich mit nichts anderem befassen. In Hamburg und Kiel sind solche Ermittlungsgruppen bereits aktiv; in Nordrhein-Westfalen baut das Landeskriminalamt gerade eine Cold-Case-Datenbank auf. Das alles geschieht vor dem Hintergrund der NSU-Morde, die jahrelang nicht als rechtsterroristische Taten erkannt worden waren.

Neue Technik

Kamen früher Landkarten mit Stecknadeln zum Einsatz, um Tatorte zu markieren, setzt die Polizei heute auf geografische Informationssysteme (GIS), eine Art Google Maps für Fahnder. Auch sonst hat die Akte aus Papier größtenteils ausgedient: Europaweit existieren unzählige Datenbanken, in denen vom Fingerabdruck von Verdächtigen über Fluggast-Daten bis zum Visum-Status von Einreisenden so ziemlich alles gespeichert ist.

Gesetzeslage

Mit der Vorratsdatenspeicherung ist ein weiteres Instrument hinzugekommen. Welche Behörde im Einzelfall auf welche Datenbank zugreifen darf, unterscheidet sich von Land zu Land.

Forensische DNA-Analyse

Mehrere Gesetzesinitiativen versuchen derzeit, den Paragrafen 81 der Strafprozessordnung so zu ändern, dass die DNA-Analyse ausgeweitet wird. So dürften künftig auch Augen-, Haut- und Haarfarbe sowie die „biogeografische Herkunft“ aus dem Material ausgelesen werden. Herausgekommen könnte am Ende ein Phantombild aus dem Labor.

Kritik

Ein Ansatz, der von Wissenschaftlern jedoch kritisch gesehen wird. Im Fachmagazin „Nature“ (Ausgabe 545) weist eine fächerübergreifende Initiative auf die Risiken der Methode hin. Besonders das Konzept der „biogeografischen Herkunft“ sei für heterogene, von Migration geprägte Gesellschaften untauglich.