Kriminalität im Kreis Böblingen Erneut mehr Fälle sexualisierter Gewalt

Bei Kinderpornografie müssen die Ermittler Terabyte Material sichern – über Monate. Foto: dpa/Arne Dedert

Die Kriminalität im Landkreis Böblingen geht zurück. Einen neuen traurigen Höchststand gibt es aber im Bereich Gewalt gegen Frauen und Kinder. Eine neue 13-köpfige Ermittlergruppe soll den Kampf gegen den kinderpornografischen Sumpf im Netz aufnehmen.

Böblingen: Carola Stadtmüller (cas)

Auch im zweiten Coronajahr meldet das Polizeipräsidium Ludwigsburg, zu dem auch der Kreis Böblingen gehört, einen traurigen Höchststand: Erneut sind die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung deutlich angestiegen, von 624 auf 892 Fälle; zumeist sind davon Frauen und Kinder betroffen.

 

Ein Grund ist ein starker Anstieg der Verbreitung pornografischer Schriften von 253 auf 539 Fälle. Die Anzahl der Ermittlungsverfahren im Bereich der Kinder- und Jugendpornografie stieg von 189 im Jahr 2021 auf zuletzt 479 an.

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„Das Digitale kommt quasi bei jedem Thema und jeder Facette von Gewalt, die uns begegnet, obendrauf“, bestätigt Karin Zimmermann von Thamar, der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt bei Kindern und Jugendlichen in Böblingen. Auch wenn nicht hinter jedem Mausklick eine Tat steht: Hatte Thamar bis 2019 etwa 700 Zugriffe auf die Homepage pro Monat, waren es in den vergangenen zwei Jahren im Schnitt bis zu 2000 – im vergangenen November 2800.

Corona ist für die erfahrene Pädagogin der Hauptgrund für den Anstieg. Einerseits seien mehr Kinder von sexueller Gewalt im häuslichen Umfeld betroffen – aber sie seien auch digitaler unterwegs, weil andere Angebote ausgefallen sind. Das Handy sei steter Begleiter. Es wird mehr gesurft, gechattet, fotografiert und verschickt; die Fotos reichen von vergleichsweise harmlosen Darstellungen bis hin zu harter Pornografie. „Das ist, als ob einer ein solches Foto an die dreistöckige Wand des Schulhauses hängt“, beschreibt Karin Zimmermann, was sie und ihre Kolleginnen von betroffenen Kindern und Jugendlichen hören. Die Folgen seien teils traumatisch. „Denn das Netz vergisst nichts. Sie können ein Foto nie hundertprozentig löschen.“

809 Terabyte Material ausgewertet

Peter Widenhorn, Sprecher der Polizei Ludwigsburg, bestätigt diese Einschätzung und spricht von einem „Massendelikt“. Wer solche Fotos teilt und weiter sendet, macht sich strafbar. „Wichtig ist, jeden Kontakt zu einem solchen Versender abzubrechen und zwar auf jedem Kanal“, sagt Widenhorn.

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Im Polizeirevier Ludwigsburg wurde für den gesamten Bereich der Kinderpornografie eine 13-köpfige Sonderermittlungsgruppe gegründet. 809 Terabyte Material mussten allein im vergangenen Jahr ausgewertet werden. Der Polizeipräsident Burkhard Metzger: „Eine Aufgabe, die die Kolleginnen und Kollegen nicht selten an die Grenze ihrer Belastbarkeit führt.“ Wenn man teils Monate lang solche Fotos sichte und Verläufe verfolge, sei das eine immense Belastung für die Beamten, fügt Widenhorn hinzu. Supervision und eine sehr gute kollegiale Einbindung seien deshalb extrem wichtig. „Aber das lohnt sich. Da läuft einiges sehr erfolgreich“, sagt Widenhorn.

Gewalt gegen Frauen auch angestiegen

Auch das Land sieht das Thema: Die 45 Fachberatungsstellen wie Thamar haben sich jüngst zur Landeskoordinierung spezialisierter Fachberatung bei sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend (LKSF) Baden-Württemberg zusammengeschlossen. Ziel ist die flächendeckende Versorgung von Kindern und Jugendlichen nach sexualisierter Gewalt: kostenfrei, zeitnah und qualifiziert. Das Land Baden-Württemberg finanziert die Koordinierungsstelle. Sozialminister Manfred Lucha und Kultusministerin Theresia Schopper (beide Grüne) haben die LKSF jüngst gemeinsam eröffnet.

Neben Kindern sind Frauen besonders betroffen von Gewalt, auch das ist durch einen Anstieg der Delikte belegt. Im Landkreis Böblingen sogar besonders stark. Die Beratungsstelle Amila, die betroffene Frauen berät, hat seit Corona deutlich mehr Anfragen: Es gab eine Steigerung der Beratungskontakte um 43 Prozent, von 433 Beratungen im Jahr 2019 auf 619 Beratungskontakte im Jahr 2020.

Hoffnung auf ein Frauenhaus 2024

Die Zahlen im Kreis Böblingen treiben auch den Abgeordneten Florian Wahl (SPD) um: Er hat dazu das Sozialministerium befragt. Dort bestätigt man die Entwicklungen im Kreis Böblingen, die entgegen dem Landestrend verlaufen. „Es ist erschreckend, dass sich die Zahl der Vergewaltigungen durch (Ex-)Partner von 2020 auf 2021 im Landkreis mehr als verdoppelt hat“, sagt Wahl. Er hält Amila für unterbesetzt. „Die Landesregierung muss mehr Mittel zur Verfügung stellen, um die Beratungsstellen besser auszustatten“, fordert er.

Endlich wieder ein Frauenhaus

Wahl spricht damit ein Thema an, das womöglich auch ein struktureller Grund für die hohen Zahlen sein könnte: Seit mehr als zehn Jahren gibt es kein Frauenhaus mehr im Landkreis Böblingen. Die Belegungszahlen waren eingebrochen, sodass die Finanzierung nicht mehr gesichert war und der Betreiberverein „Frauen helfen Frauen“ den für einen Weiterbetrieb erforderlichen Optimismus verloren hatte. Der Landkreis hätte sozusagen sofort einspringen können, dann aber auf Zuschüsse verzichten müssen.

Mit dem Waldhaus ist inzwischen ein Träger gefunden worden, der ein neues Frauenhaus betreiben wird. Auch die Finanzierung scheint gesichert. Jedenfalls sind alle nötigen Anträge gestellt. Man wartet nun auf Zusagen durch den Bund. Das Haus soll im Jahr 2024 eröffnen.

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Mehr als 100 Einbrüche gehen auf das Konto eines Täters

Statistik
 Die Gesamtzahl der Straftaten im Polizeipräsidium Ludwigsburg ist um 7,5 Prozent zurückgegangen und hat mit 34 890 Fällen den niedrigsten Stand seit 1991 erreicht. Die 1800 Mitarbeiter des Präsidiums hatten dennoch viel zu tun: Zu der hohen Belastung führten auch rund 170 Einsätze im Zusammenhang mit demonstrativen Corona-Aktionen.

Einbrüche Die Zahl der Wohnungseinbrüche erreichte einen neuen Tiefstand: es wurden 276 Fälle erfasst, davon 114 im Kreis Böblingen. Dabei ist den Ermittlern ein großer Fisch ins Netz gegangen. Auf das Konto eines Täters aus dem Kreis Ludwigsburg gingen mehr als 100 Einbrüche. Daher stieg die Aufklärungsquote in diesem Bereich von 28,6 auf 40,2 Prozent.

Verkehrsunfälle Die Unfallzahlen sind rückläufig, aber mehr Menschen starben. Oft waren die Beteiligten bei tödlichen Unfällen zu schnell. Bei leichteren Verkehrsunfällen führen hingegen Fehler beim Abbiegen die Statistik an. Darüber, ob dafür auch mangelnde Fahrpraxis wegen der Pandemie eine Ursache ist, mag der Polizeisprecher Widenhorn nicht spekulieren.

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