Experten ziehen eine alarmierende Bilanz der organisierten Kriminalität, die weite Teile der Wirtschaft und der Politik beeinflusst.

Karlsruhe - Organisierte Kriminalität beeinflusst weite Teile der Wirtschaft und der Politik. Ein Symposium in Karlsruhe zeigte, dass es längst nicht mehr nur um Mafia, Drogen oder Waffen geht, sondern um korrupte Machteliten auch in stabilen Demokratien.

So darf man es sich in Palermo vorstellen. Ein halber Straßenzug wird frei geräumt, parkende Autos verschwinden. Ein paar Dutzend streng blickender Herren in dunklen Anzügen mit dem berühmten Knopf im Ohr röntgen mit misstrauischen Blicken ihr Umfeld. Sie schieben ihre "Schutzperson" durch einen Seiteneingang und lassen nur noch die Menschen in die Nähe, die sie vorher überprüft haben. Das nennt sich "effektiver Personenschutz". Im Mafialand Sizilien ist das Alltag, und am Wochenende war es das auch in Karlsruhe. Das Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft (ZAK) hatte zu den jährlichen Karlsruher Gesprächen gebeten, das Thema: Organisierte Kriminalität.

Der Mann, der da in Windeseile streng abgeschirmt durch einen Seiteneingang ins Karlsruher Tagungszentrum gekommen war, heißt Roberto Scarpinato. Er ist Leitender Oberstaatsanwalt der Antimafia- Direktion in Palermo. Er hat dem früheren italienischen Regierungschef Giulio Andreotti wegen dessen Mafia-Kontakten den Prozess gemacht. Er hat im Team des legendären Richters Giovanni Falcone gearbeitet. Jener Falcone, den die Mafia 1992 mit einer 500 Kilogramm Autobombe in die Luft gejagt hat. Scarpinato weiß, dass er täglich sein Leben riskiert, und ein paar hundert Besucher dieser Tagung nehmen selbstredend in Kauf, dass sie in langen Schlangen zu warten haben, bis die Sicherheitskräfte ihnen Zutritt gewähren.

Legale und illegale Mächtige


Es ist das Verdienst dieser seit Jahren etablierten Karlsruher Gespräche, Einblick in die verschwiegene und gefährliche Welt der Organisierten Kriminalität (OK) zu geben. Der Mafia-Jäger Roberto Scarpinato schockt die Zuhörer. Er nimmt ihnen die Illusion, dass diese verbrecherische Unterwelt ausschließlich mit Drogen, Waffen oder Menschenhandel zu tun hat und dass diese irgendwo weit weit weg liegt. Scarpinato sagt ihnen: "Das, was wir außerhalb zu bekämpfen glauben, ist bereits in uns".

Er erzählt von "legalen und illegalen Mächtigen", er referiert, dass die Mafia längst "struktureller Teil des Kapitalismus geworden ist" und wie "das regellose Wirken von Menschen mit Anzug und Krawatten Schaden anrichtet". Ein gesamtgesellschaftliches Problem, das durch Verhaftungen allein nicht mehr zu lösen sei. Das wäre, sagt der Mafiajäger, "als wollten Sie den Ozean mit einer Nussschale leer schöpfen". In Zeiten sogenannter Finanzkrisen hat er "supermächtige Topmanager im rechtsfreien Raum" im Blick, die etwa alle Bemühungen, Geldwäsche wirkungsvoll zu bekämpfen, "ins Leere laufen lassen".

Über solche Wege seien immerhin bis zu 1,5 Billionen Dollar aus der Schattenwirtschaft, wie er es nennt, "recycelt" worden. Er spricht von der riesigen Einkommenskluft. In Italien erwirtschaften etwa nur ein Prozent der Bevölkerung knapp 16 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes. Und dieses Eigentum in wenigen Händen wird eben nicht mehr durch Steuern umverteilt, weil mächtige Lobbyisten sich mit ihren Interessen durchsetzen. "Die private Macht", sagt Scarpinato, "hat in einigen Staaten die Macht übernommen". Das war für manche Besucher "die schärfste Kapitalismuskritik, die ich je gehört habe". Und ein paar der dunkel gekleideten Herren haben ebenfalls genau hingehört: "Recht hat er", sagen sie.

Jeder fünfte Euro weltweit aus der Hand von Kriminellen?


In der weltweiten geführten Debatte um organisierte Kriminalität und ihren Einfluss auf das tägliche Leben sind nicht alle Experten einer Meinung. Auch bei den Karlsruher Gesprächen nicht. Wissenschaftler etwa, Historiker, Forscher, die mit empirisch belegten Zahlen Finanzströme sichtbar und in ihrer Summe erklärbar machen wollen. Die Zahlen klaffen weit auseinander. Weltweit sind zwischen zwei und 20 Prozent des Bruttosozialproduktes dem Ergebnis krimineller Geschäftsprozesse zuzuordnen. Nach den Pessimisten zu urteilen, käme also jeder fünfte Euro weltweit aus der Hand von Kriminellen. Kaum jemand vermag wirklich seriös zu Ende zu denken, wie viel gewaschenes OK-Geld in den legalen Wirtschaftskreislauf gelangt, wie viel davon brav versteuert wird und wie viele Kindergärten oder Straßen am Ende aus solchen Steuereinnahmen finanziert werden.

Wenn Wolfgang Hetzer über organisierte Kriminalität spricht, redet er nicht nur über die üblichen Verdächtigen. Die Mafiosi, die Drogen-, Waffen- oder Menschenhändler. Das seien, sagt der Berater des europäischen Amtes für Betrugs- und Korruptionsbekämpfung (OLAF) allenfalls "reflexartige Schlagwörter". Organisierte Kriminalität nur darauf zu reduzieren bringe allenfalls "in der Welt bürgerlicher Wohlanständigkeit und in politischen Kreisen Entlastung".

Seiner Einschätzung nach haben Regierungen erlaubt, dass das System und seine wichtigsten Vertreter "außer Kontrolle gerieten". Banker oder Fondsmanager hätten "ihre Seelen verkauft, um riesige Summern Geldes zu verdienen und es sich in die eigene Tasche zu stecken, als das System kollabierte". Für den EU-Antikorruptionsberater Wolfgang Hetzer ist "schon jetzt kaum noch zu klären, in welchem Maß zwischen (noch) legalen Unternehmen und der organisierten Kriminalität Deckungsgleichheit besteht".

Die Schlussfolgerung des EU-Antikorruptionsberaters ist an Dramatik kaum noch zu überbieten: "Jede Gesellschaft hat die organisierte Kriminalität, die sie verdient - weil sie an ihr verdient".

Einblicke in die organisierte Kriminalität


Lage:
Pessimistische Experten schätzen, dass bis zu 20 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes "dem Ergebnis krimineller Geschäftsprozesse zuzuordnen sind". Die Optimisten sprechen dagegen von knapp zwei Prozent.

Politik:
Bei der Karlsruher OK-Tagung beklagten führende Korruptionsermittler und Mafiajäger, dass auch in stabilen Demokratien "die Politik gegen wirtschaftliche Interessen machtlos geworden ist". Die aktuelle Finanzkrise habe verursacht durch skrupellose Finanzmanager "einen korrupten Kern", der für organisierte Kriminalität wie "ein Jungbrunnen" wirkt.

Bedrohung:
Die in Italien lebende deutsche Journalistin und Mafiaexpertin Petra Reski wurde nach ihren jüngsten Enthüllungen über die Kontakte der Mafia bis in deutsche Regierungskreise hinein mehrfach bedroht. Teile ihres neuesten Buches, in dem auch frühere Kontakte des Ministerpräsidenten Günter Oettinger zu einem mafiaverdächtigen Pizzabäcker thematisiert werden, mussten auf Gerichtsbeschluss hin geschwärzt werden. Italienische Ermittler, denen diese Kontakte ebenso bekannt sind, sagt Reski, lachen darüber verständnislos.