Seit 2001 ist Freiburg die Großstadt im Südwesten mit den meisten Straftaten. Jetzt wird mehr Kontrollen, Kameras und Polizisten aufgerüstet – das bringt neue Konflikte mit sich.

Freiburg - Es ist Freitagabend, kurz nach 23 Uhr, als in der Freiburger Altstadt zum ersten Mal die Fäuste fliegen. Der laue Frühlingsabend hat viele Jugendliche nach draußen getrieben. Mit Bierflaschen, Dönern und Gitarren sitzen sie am Platz der Alten Synagoge. Doch dann passiert das, was an solchen Abenden hier oft geschieht: Die Stimmung kippt so schnell wie eine achtlos abgestellte Wodkaflasche. Ein falsches Wort, ein schiefer Blick, schon liegt ein junger Mann am Boden.

 

Stefan Tränkle ist in Sichtweite, als der Streit ausbricht. Der 39-jährige Polizist leitet die Sondereinheit „Gewa-City“, die gewalttätige Auseinandersetzungen unter Partygängern verhindern soll. In diesem Fall ist es schon zu spät. Der junge Mann sucht seine Kontaktlinse, die nach der Schubserei auf den Boden gefallen ist. „Das ist so asozial hier“, schimpft der Geschädigte, der selbst nicht mehr ganz nüchtern zu sein scheint. „Erst letzte Woche wurde ich hier mit dem Messer bedroht. Und jetzt hab‘ ich auch noch ‘ne Faust gesehen.“

Szenen wie diese sind in Freiburg nichts Besonderes. Am Wochenende wirkt die südbadische Studentenstadt wie ein Magnet auf junge Leute. Das Einzugsgebiet erstreckt sich vom Schwarzwald bis nach Frankreich und in die Schweiz. Das ist gut für Kneipen und Clubs, führt aber regelmäßig zu Konflikten. Vor allem freitag- und samstagnachts geht es in der City heiß her: Schlägereien, Taschendiebstähle, Raub.

11 712 Straftaten pro 100 000 Einwohner

Das allein ist nicht ungewöhnlich für eine Stadt mit knapp 240 000 Einwohnern. Doch während es Schlägereien und Betrunkene auch anderswo gibt, hat Freiburg ein Alleinstellungsmerkmal: Es ist, statistisch gesehen, die kriminellste Großstadt in Baden-Württemberg. 2017 geschahen in Freiburg 11 712 Straftaten pro 100 000 Einwohner, mehr als in Mannheim, Karlsruhe oder Stuttgart. Den unrühmlichen Titel trägt die Stadt bereits seit dem Jahr 2001, und viele Freiburger hatten sich damit arrangiert. Die Gewalt im Nachtleben schien weit weg, solange tagsüber alles ruhig blieb.

Dann kam 2016. Im August rufen Anwohner die Polizei, weil sie einen Streit hören. Als die Beamten eintreffen, finden sie eine 31-Jährige tot in ihrer Wohnung – ermordet durch mehrere Messerstiche. Im Oktober wird ein 51-Jähriger von Männern attackiert, er stirbt an inneren Verletzungen. Wenige Tage später liegt die Medizinstudentin Maria L. tot und missbraucht am Ufer des Flusses Dreisam, sie war nach einer Party mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Im November wird im nahe gelegenen Endingen die Joggerin Carolin G. ermordet, ebenfalls ein Sexualdelikt. Nur eine Woche später kommt es zu einem Familienstreit: Ein 39-jähriger Mann ersticht seinen Neffen.

Auf Nummer sicher

Fünf Tote durch Gewalttaten in weniger als einem halben Jahr veränderten die Stimmung. War die hohe Kriminalitätsrate zuvor oft als Lappalie abgetan worden – Fahrraddiebstahl, Raufereien unter Betrunkenen – bewirkten die Sexualmorde ein Umdenken. Selbstverteidigungskurse waren ausgebucht. In einigen Geschäften gingen Elektroschocker und Pfefferspray zur Neige. Junge Frauen installierten die App „Komm gut heim“ auf ihrem Handy, damit ihre Freunde stets wussten, wo sie sich aufhielten. Zeitweise war die Gründung einer Bürgerwehr im Gespräch, die aber nie über den Status einer Facebook-Gruppe hinauskam.

Manche Medien berichteten daraufhin von der „dunklen Seite des Idylls“, von der „Hochburg der Ökos und Verbrecher“ und von „Panik in der Unistadt“, was sicherlich übertrieben war. Doch auch die Politik nahm das angeknackste Sicherheitsgefühl wahr. Jahrelang hatte (der inzwischen abgewählte) Oberbürgermeister Dieter Salomon erfolglos nach mehr Polizisten verlangt. Nun gestand die Landesregierung ihm erstmals eine Aufstockung um zehn Beamte zu – allerdings geknüpft an Bedingungen. So sollte die Stadt einen eigenen kommunalen Vollzugsdienst gründen, der sich um Kleinigkeiten kümmert und damit die Polizei entlastet.

Kritik an Sicherheitspartnerschaft

Im grün regierten Freiburg traf die Forderung einen Nerv. Zwar waren sich im Gemeinderat fast alle einig, dass die Stadt mehr Polizisten braucht. Doch mit einem zusätzlichen Vollzugsdienst, der die gleichen Befugnisse hat wie die Polizei, konnten sich nicht alle anfreunden. Die linksliberale JPG-Fraktion befürchtete, dass Obdachlose, Straßenmusiker und sozial Schwache verdrängt werden könnten. Andere Stadträte plädierten für mehr Präventions- und Sozialarbeit. Am Ende aber war das Votum eindeutig: Nur zehn von 48 Räten stimmten gegen die „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen Stadt und Land, zwei enthielten sich. Der Vollzugsdienst und die zusätzlichen Beamten sind der erste Schritt im Kampf gegen die Kriminalität. So lässt die Stadtverwaltung Gebüsche in Parks zurückschneiden, damit Angsträume besser ausgeleuchtet werden. Die Polizei plant, in der Innenstadt mehrere Videokameras in Betrieb zu nehmen. Ein Sammeltaxi Frauen soll mehr Sicherheit im Nachtleben schaffen. Wobei von Dezember 2017 bis März 2018 nur 60 Frauen das Angebot nutzten.

Im Straßenbild sind deutlich mehr Polizisten zu sehen als in den zurückliegenden Jahren, zumal das Land zusätzlich eine Hundertschaft ins nahe gelegene Umkirch verlegt hat. Tatsächlich ist die Kriminalität leicht rückläufig. 2017 gingen die Gewaltstraftaten um 5,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück – angepeilt waren zehn Prozent. Den Rang „kriminellste Großstadt“ hat Freiburg aber behalten, wenn auch nur knapp. Die Polizei bewertet die Entwicklung in einer Stellungnahme als „derzeit sehr positiv“, und auch die Stadtverwaltung sieht sich in ihrer Linie bestätigt.

Freiburg soll wieder toleranter werden

Andererseits regt sich Widerstand gegen die Politik der Aufrüstung. Im Juni 2017 kritisieren die Kriminologen Jakob Bach und Roland Hefendehl auf einer Podiumsdiskussion in Freiburg die sogenannten Kriminalitätsschwerpunkte, welche die Polizei im Innenstadtbereich ausgerufen hat. In diesen Gebieten dürfen Personen auch ohne konkreten Verdacht kontrolliert werden. „Wir haben es mit einer städtischen Ordnungspolitik zu tun, die es auf soziale Selektion anlegt“, sagt Bach. Da die Polizei mehr kontrolliere, würden auch mehr Delikte festgestellt. „Das Ergebnis ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung“, sagt der Kriminologe – zumal es größtenteils nur um geringfügige Delikte gehe.

Hefendehl plädiert dafür, die Kriminalitätsschwerpunkte wieder abzuschaffen. Die Polizei solle nur bei konkreter Gefahr eingreifen. „Freiburg soll wieder eine tolerante Stadt werden“, fordert der Professor, was in der anschließenden Diskussion Wortgefechte befeuert. „In welcher Welt leben Sie eigentlich?“, fragt eine Zuhörerin. Bach kontert: „Jedenfalls nicht in der Welt der Polizeistatistik.“

Die Debatte zieht sich bis in den Gemeinderat. Zwar unterstützt die Mehrheit die härtere Gangart in der Sicherheitspolitik, aber es gibt auch Widerstand, zum Beispiel von der JPG-Fraktion. In einer energischen Rede spricht sich Stadtrat Simon Waldenspuhl gegen eine Einschränkung der Bürgerrechte durch Videokameras und den neuen kommunalen Vollzugsdienst aus. „Es mutet bizarr an, dass die Stadt Hunderttausende Euro ausgeben will, um unerlaubte Straßenmusik zu unterbinden“, sagt Waldenspuhl. Solche „repressiven Maßnahmen“ passten nicht ins Selbstbild Freiburgs als offene Stadt.

Ein Jahr nach Einführung der Sicherheitspartnerschaft hat sich an seiner Meinung nichts geändert. „Man kann nicht bestreiten, dass die Gewaltkriminalität leicht gesunken ist“, sagt Waldenspuhl. Diese Entwicklung nur auf die stärkere Polizeipräsenz zurückzuführen greife aber zu kurz. „Es gab immer ein Auf und Ab in der Statistik.“ Auch im bundesweiten Trend gehe die Kriminalität zurück.

Das Anti-Graffiti-Projekt

Auf solche positiven Aussichten wollen sich freilich nicht alle verlassen. So will der Verein Sicheres Freiburg verängstigten Menschen ihr Selbstbewusstsein zurückgeben. Mehrmals im Jahr bietet der Verein Selbstverteidigungskurse an, auch einen eigenen Preis für Zivilcourage hat er ins Leben gerufen. Am bekanntesten ist er jedoch durch sein sogenanntes Antigraffiti-Projekt. Sollten Hauseigentümer mehrfach Opfer von Graffiti werden, können sie ihre Fassaden mithilfe des Vereins zweimal kostenlos nachstreichen lassen – unter der Bedingung, dass sie die Malerarbeiten beim ersten Mal selbst bezahlen und Anzeige erstatten. 100 000 Euro stehen für diesen Service zur Verfügung.

Dass ein Verein über solche Mittel verfügt, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Die Sache erklärt sich dadurch, dass Stadtverwaltung und Polizei den Verein selbst gegründet haben. Der Vorsitzende ist der Sozialbürgermeister der Stadt, sein Stellvertreter der Polizeivizepräsident. „Auf diese Weise kann man Aktionen schneller starten“, sagt der Vereinsvorsitzende Ulrich von Kirchbach. „Man ist beweglicher als in den Hierarchien der Stadtverwaltung.“ Zusätzlich erhalte der Verein regelmäßig Zuwendungen, wenn Straftäter vor Gericht zu Geldbußen verurteilt werden.

Auch dieses Konstrukt entfacht Diskussionen. Kritiker bemängeln vor allem, dass durch das Antigraffiti-Modell Immobilienbesitzer mit öffentlichem Geld subventioniert würden. Darauf angesprochen, widerspricht von Kirchbach vehement: „Es geht nicht darum, Privatleuten Geld zu geben, sondern darum, das Stadtbild zu erhalten. Wir wollen deutlich machen, dass Sachbeschädigung kein Kavaliersdelikt ist.“ Die enge Verzahnung von Stadt, Polizei und Verein sei gewollt: „Die Alternative wäre, dass wir Sicherheit privatisieren. Sie wäre dann nur noch für Reiche bezahlbar.“

Kriminalität geht zurück

Mit der Sicherheitspartnerschaft zeigt sich von Kirchbach derweil zufrieden. Zum ersten Mal seit Langem gehe die Kriminalität in der Stadt zurück. Das schlage sich auch in der Stimmung der Bevölkerung nieder. Den Vorwurf, die Stadt habe den Bogen überspannt, hält von Kirchbach für unberechtigt. „Damit wir eine liberale Stadt bleiben können, müssen sich unsere Bürger auch frei bewegen können.“ Er selbst habe sich in der Stadt übrigens noch nie unwohl gefühlt, ergänzt der Sozialbürgermeister. „Aber ich bin auch 1,90 Meter groß und gehe einmal pro Woche zum Boxtraining.“