Die europäische Schuldenkrise und wackelnde Konjunkturaussichten lassen weltweit die Börsenkurse abstürzen. Anleger flüchten in Gold.

Frankfurt - Wenn Dennis Nacken auf die Computerbildschirme an seinem Arbeitsplatz in der Frankfurter Innenstadt schaut, sieht er derzeit "pure Emotionen" über die Kurstafeln flackern. Der 38-Jährige beobachtet und analysiert bei der Fondsgesellschaft Allianz Global Investors die Kursbewegungen an den Börsen. Und das bestimmende Gefühl sei derzeit eben "Angst".

 

Auf dem Stand von 7254,5 Punkten war der Deutsche Aktienindex in die Handelswoche gestartet und kannte dann nur eine Richtung - nach unten. In fünf Handelstagen stürzte das Barometer der 30 größten Aktiengesellschaften kurzzeitig auf unter 6200 Punkten. Ein Minus von mehr als 1000 Punkten in einer Woche, ein Crash in Raten. Der Absturz nach dem Tsunami und der Nuklearkatastrophe in Japan im März war nicht annähernd so stark.

Anhaltende Verunsicherung über die europäische Schuldenkrise

Zwei Faktoren haben nach Ansicht der meisten Analysten dazu beigetragen: Die anhaltende Verunsicherung über die europäische Schuldenkrise und die Sorge über ein Ende der konjunkturellen Erholung in den USA, aber auch in Europa und wichtigen Schwellenländern. Vor allem Aktien von Banken aus südeuropäischen Ländern sind unter die Räder gekommen. Die italienische Bank Intesa Sanpaolo verlor mehr als 20 Prozent in dieser Woche und war mit einem Preis von 1,30 Euro auf dem Weg, ein "Pennystock" zu werden, wie Aktien mit einem Wert von unter einem Euro an der Börse abfällig genannt werden.

Einigen französischen Instituten wie Société Générale und Crédit Agricole erging es ähnlich schlecht. Sie wurden dafür abgestraft, große Bestände an südeuropäischen Staatsanleihen in ihrem Besitz zu haben.

Das Vertrauen der Verbraucher geht verloren

Die Angst der Anleger hat sich selbst verstärkt. Zuerst flüchteten einige, dann befürchteten viele, dass die Pessimisten überhandnehmen könnten, und folgten dem Beispiel. "Die Aktien werden verkauft, weil andere auch schon verkauft haben", so Jürgen Meyer, Fondsmanager bei SEB.

Die Sorge macht jetzt die Runde, dass sich ein Szenario wie nach der Pleite der US-Großbank Lehman Brothers im September 2008 wiederholen könnte. Erst fallen die Börsenkurse, dann wächst das Misstrauen der Banken untereinander, und bald müssen auch Unternehmen um ihre Finanzierungen bangen und können daher nicht investieren. Das Vertrauen der Verbraucher geht gleichzeitig verloren und Waren lassen sich schwerer absetzen - die nächste globale Rezession rückt an.

Vor der Lehman-Pleite gab es maßlose Übertreibungen auf den Kapital - und Kreditmärkten

"Mit Lehman ist die aktuelle Situation nicht zu vergleichen", sagt Kapitalmarktexperte Nacken. Denn vor der Lehman-Pleite habe es maßlose Übertreibungen auf den Kapital - und Kreditmärkten gegeben und gewaltige Immobilienblasen hatten sich in den USA oder Spanien aufgebaut. Diese Risiken seien vom breiten Markt ignoriert worden, was das nachfolgende Desaster ausgelöst hatte.

"Derzeit wird aber sehr viel auf Risiken geachtet, vor allem in der europäischen Schuldenkrise", sagt Nacken. Seiner Meinung nach werden positive Faktoren wie die Wachstumsdynamik in den Schwellenländern, die gute Auftrags- und Gewinnsituation der Unternehmen und die sehr niedrigen Bewertungen der Aktienmärkte aktuell ausgeblendet. Er geht davon aus, dass die Kursreaktionen daher übertrieben seien und sich eine Erholung einstellen könnte.

Verunsicherten Investoren flüchteten sich in andere Anlagen

Die Europäische Zentralbank hatte am Mittwoch ankündigt, Banken wieder sechs statt zuletzt maximal drei Monate mit frischem Geld zu versorgen und so die Sorge vor klammen Kreditinstituten auszuräumen. Doch weder dieser Schritt noch das Wiederaufleben des Kaufs von Staatsanleihen hatten wirklich beruhigende Auswirkungen. Die Rendite zehnjähriger italienischer Papiere lag auch gestern weiterhin über sechs Prozent, einem viel beobachteten Schwellenwert. Bei spanischen Titel sah es ähnlich aus.

Die verunsicherten Investoren flüchteten sich in andere Anlagen wie deutsche oder britische Staatsanleihen, Gold oder den Schweizer Franken. Aber auch das ist nicht frei von Nebenwirkungen. So sei Gold bereits auf einem hohen Niveau angelangt, meint etwa Peter Merk von der Landesbank Baden-Württemberg. "Die Flucht der Anleger in Sicherheit hat einen hohen Preis", sagt auch Jens Wilhelm, Vorstandsmitglied bei Union Investment, der Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken. "Das zeigt beispielsweise die Rendite der kurzlaufenden Bundesanleihen, die inzwischen weniger als halb so hoch ist wie die derzeitige Inflation." Damit steht real betrachtet unter dem Strich ein Minus für den Anleger, der diese Titel wählt.

Der Marktzusammenbruch könnte begonnen haben

Der Zulauf von Geld in solche Anlageklassen erklärt sich auch daraus, dass Titel wie Bundesanleihen sehr leicht und jederzeit handelbar sind, also eine Rückkehr in den Aktienmarkt leicht möglich ist. Denn noch größer als die Sorge, nicht schnell genug einen Kursrutsch zu erkennen, ist bei Anlegern die Furcht, den nächsten Aufschwung zu verpassen. Schon die nur etwas besser als erwartet ausgefallenen amerikanischen Arbeitsmarktdaten verhalfen dem Dax gestern, sein am Morgen erreichtes zwischenzeitliches Minus von über drei Prozent deutlich abzubauen.

Als grundlegender Befreiungsschlag könnte die Talfahrt an den Märkten eine Mitteilung zu noch umfassenderem gegenseitigen Beistand der Euro-Mitgliedsstaaten sein. Doch dazu könnte nach Ansicht von Mark Burgess, Chefanlagestratege bei der amerikanischen Gesellschaft Threadneedle, ein einschneidender Marktzusammenbruch nötig sein. In dieser Woche könnte dieser begonnen haben.

Kursrückgang zur Urlaubszeit

Ferien: Es klingt ein wenig platt, aber auch die Ferienzeit hat nach Ansicht vieler Marktbeobachter etwas zum Kursrückgang an den Börsen beigetragen. So sind in den Sommermonaten die Umsätze an den Märkten meist etwas geringer und dadurch die Kurse anfälliger für Schwankungen.

Verlust: Professionelle, aber auch private Anleger versehen ihre Depots in vielen Fällen mit Verkaufsgrenzen. Fällt ein Aktienkurs unter eine Marke, wird das Papier automatisch verkauft. Das kann Abwärtstrends verschärfen.