Mit der massivsten Protestaktion seit Jahren wehren sich die Griechen gegen die Rentenreform. Premier Alexis Tsipras kommt in Bedrängnis, das Wort von Neuwahlen macht bereits die Runde.

Athen - Am Mittwochabend kurz vor Mitternacht lässt Miltos Mavridis die Rollläden seines Periptero, seines Kiosks, an der Athener Platia Pangratiou herunter. Bis zum Freitagmorgen bleibt die Bude zu. „Es ist mein erster Streik“, sagt der 58-jährige Händler. „Irgendwie müssen wir doch versuchen, uns zu wehren!“

 

Nicht nur Mavridis will sich wehren. Die Pläne der Regierung für eine Rentenreform haben in Griechenland die massivste Streik- und Protestwelle seit Jahren ausgelöst. Um die zerrütteten Rentenfinanzen zu sanieren, will die Regierung die Sozialversicherungsbeiträge erhöhen und künftige Renten um durchschnittlich 15 Prozent kürzen. Dagegen revoltieren Gewerkschaften und Berufsverbände.

Griechenland war am Donnerstag ein vollständig gelähmtes Land. Die meisten Verkehrsmittel standen still, Dutzende Inlandsflüge wurden gestrichen, auch die Taxifahrer traten in den Ausstand. Behörden und Schulen blieben geschlossen, viele Einzelhändler öffneten ihre Läden nicht. Die Seeleute bestreikten die Häfen, protestierende Bauern blockierten Autobahnen und Überlandstraßen. In Athen versammelten sich mehr als 50 000 Menschen zu Protestkundgebungen. „Ich habe 43 Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt“, sagte der Rentner Michalis Antonakos. „720 Euro Rente bekomme ich, und die will man mir jetzt auch noch kürzen“, klagte der Pensionär.

Straßensperrungen im Stadtzentrum von Athen

Mit einem starken Polizeiaufgebot und Straßensperrungen im Stadtzentrum hatten sich die Behörden auf mögliche Ausschreitungen vorbereitet. Am Rand der friedlichen Kundgebungen kam es kurzzeitig zu Scharmützeln, als vermummte Jugendliche die Polizei mit Brandflaschen und Steinen attackierten. Die Beamten setzten Tränengas ein.

Besonders stark war die Polizeipräsenz rund um das Hilton-Hotel. Dort setzten Finanzminister Euklid Tsakalotos und Arbeitsminister Giorgos Katrougalos am Mittag ihre Verhandlungen mit dem „Quartett“ fort, den Vertretern der Geldgeber-Institutionen. Auf der Tagesordnung stand auch die Rentenreform. Während den griechischen Gewerkschaften die Pläne der Regierung viel zu weit gehen, gehen sie aus Sicht der internationalen Geldgeber nicht weit genug: Sie verlangen auch Kürzungen bei bestehenden Renten, was die Regierung bis jetzt strikt ablehnt. Das sei eine „rote Linie“, die er nicht überschreiten könne, sagt Premierminister Alexis Tsipras. Er will die Gespräche schnell abschließen. Davon hängen nicht nur die Freigabe weiterer Hilfsgelder ab, sondern auch die Schuldenerleichterungen, auf die Tsipras seit Langem drängt.

Der griechische Premier hat viele Baustellen. Am Donnerstag nahm er in London an der Geberkonferenz für syrische Flüchtlinge teil. Für Tsipras ist das ein in mehrfacher Hinsicht heikles Thema. Weil immer mehr europäische Länder den Zuzug von Flüchtlingen begrenzen, müssen die Griechen fürchten, dass ihr Land zur Endstation für die Schutzsuchenden wird, die in unverminderter Zahl über die Ägäis kommen. Zugleich steht Griechenland wegen schwerwiegender Versäumnisse bei der Registrierung der Ankömmlinge in der Kritik. Werden die Mängel nicht abgestellt, droht dem Land der Ausschluss aus dem Schengen-Verbund. Für die Regierung wäre das ein politisches Desaster.

Spekulationen über Neuwahlen machen die Runde

Bis vor wenigen Monaten dominierte Premier Tsipras unangefochten auf der politischen Bühne des Landes. Jetzt ist er in der Defensive. Bekommt er für seine Rentenreform im Parlament keine Mehrheit, bedeutet das den Sturz der Regierung. Seit Wochen kursieren in Athen Spekulationen, Tsipras könnte sein Heil in Neuwahlen suchen. Aber für eine solche Flucht nach vorn ist es vielleicht schon zu spät: In den Meinungsumfragen führen die oppositionellen Konservativen.

Auch auf die Stimme von Kioskbesitzer Miltos Mavridis könnte Tsipras wohl nicht noch einmal zählen. Beim letzten Urnengang Ende September hatte er das Linksbündnis Syriza gewählt, in der Hoffnung, „dass sich endlich etwas zum Positiven bewegt und die Wirtschaft wieder in Schwung kommt“, wie er sagt. „Aber seitdem ist alles nur noch schlimmer geworden“, stellt der Händler ernüchtert fest.