Spaniens Ministerpräsident Rajoy lässt die Krise um Katalonien eskalieren – in unnötig hohem Tempo, meint unser Korrespondent Martin Dahms.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Barcelona - Vor knapp zwei Wochen hielt Carles Puigdemont vor dem katalanischen Regionalparlament eine Rede, die sich als Unabhängigkeitserklärung interpretieren ließ. Am Tag danach sagte Mariano Rajoy erstmals öffentlich, dass er daran denke, die katalanische Krise mithilfe des Artikels 155 der spanischen Verfassung in den Griff zu bekommen. Dieser Artikel erlaubt der spanischen Regierung, die „notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen, um eine rebellische Region auf den Pfad der Verfassung zurückzuführen. Rajoy versprach, dass er „mit Vorsicht und Verantwortungsbewusstsein“ handeln werde. Er hat sich nicht daran gehalten. An diesem Samstag hat sein Kabinett den Senat gebeten, der vollständigen Entmachtung der derzeitigen katalanischen Regionalregierung zuzustimmen. In sechs Monaten oder „sobald die Normalität zurückgewonnen ist“, soll es Neuwahlen in Katalonien geben. Doch so schnell wird die Normalität nicht nach Katalonien zurückkehren.

 

Dass Puigdemont seinen Posten räumen soll, fordern viele Spanier schon lange, und Artikel 155 scheint dafür das ideale Instrument zu sein. Doch Ende vergangener Woche meldeten einige spanische Verfassungsrechtler Zweifel an: Wer den Artikel genau lese, müsse zu dem Schluss kommen, dass die Absetzung einer Regionalregierung und das Ausrufen von Neuwahlen nicht in den „notwendigen Maßnahmen“ zur Wiederherstellung der Rechtsordnung inbegriffen sind. Im zweiten Absatz des Artikels 155 steht nämlich, dass die spanische Regierung „Anweisungen an alle Behörden der Autonomen Gemeinschaften“ geben könne, aber nicht, dass sie diese Behörden von eigenen Leuten führen lassen kann.

Eine unglückliche Mischung aus Zögerlichkeit und Überreaktion

Rajoy interpretiert sein Weisungsrecht also weder mit Vorsicht noch mit Verantwortungsbewusstsein. Er hätte den Regionalministern zunächst Aufpasser zur Seite stellen können, um alle weiteren Schritte in Richtung Unabhängigkeit zu unterbinden – um erst im Falle hartnäckigen Widerstands auf deren Absetzung zu drängen. Wer den Rechtsstaat verteidigen will, muss dessen Regeln selber genau einhalten. Rajoys Umgang mit den katalanischen Rebellen ist eine unglückliche Mischung aus Zögerlichkeit und Überreaktion. Spätestens seit dem 9. November 2015 weiß er, dass die Separatisten mit der Abspaltung Kataloniens Ernst machen wollen: Damals erklärte das frisch gewählte Regionalparlament, die Ablösung in Gang setzen zu wollen. Rajoy ließ es geschehen. Später setzte er einfach darauf, dass es ihm gelingen würde, das geplante Unabhängigkeitsreferendum zu verhindern. Das gelang ihm aber nicht.

Statt sich am 1. Oktober mit dem irregulären Referendum abzufinden und dessen Ergebnisse zu ignorieren, schickte die spanische Polizeiführung Beamte los, die sich hier und da prügelnd Zutritt zu Wahllokalen verschafften. Die Separatisten konnten von nun an die Repression durch den spanischen Staat beklagen. Ähnlich agierten sie auch vor einer Woche, als eine spanische Untersuchungsrichterin die Vorsitzenden der großen Unabhängigkeitsinitiativen Assemblea Nacional Catalana und Òmnium Cultural in Untersuchungshaft stecken ließ: auch das eine, diesmal juristische, Überreaktion, die unter anderem von Amnesty International scharf kritisiert wurde.

Katalonien ist nur auf eine Weise zu helfen

Die große Erzählung der katalanischen Separatisten ist seit diesem Samstag perfekt: Erst prügelt man uns, dann steckt man uns ins Gefängnis, und zum guten Schluss wird unsere demokratisch gewählte Regionalregierung abgesetzt. Òmnium Cultural veröffentlichte vor ein paar Tagen ein Video unter dem Titel „Help Catalonia. Save Europe“, das dem Video „We all are Ukrainians“ aus den Tagen der Orange Revolution in Kiew nachempfunden ist. Katalonien ist nur auf eine Weise zu helfen: Jeder, der kann, möge den katalanischen Separatisten klarmachen, dass sie, trotz allem, nicht in der Ukraine leben.