Frankreich galt zwar bisher als Immigrationsland, doch die Krise ändert die Vorzeichen. Immer mehr Uni-Absolventen verlassen nach dem Studium ihre Heimat, weil sie dort keinen Arbeitsplatz finden.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Paris - Catherine hat einen Master in internationalem Recht, absolviert an der prestigeträchtigen Universität Sciences Po in Paris. Ihr Leben fristet sie allerdings mit kleinen Jobs, unter anderem als Kellnerin. Die 27-jährige Französin ist kein Einzelfall in einem Land, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei rund 25 Prozent liegt. Nun ergreift Catherine eine drastische Gegenmaßnahme: Sie wandert nach Australien aus, auch wenn sie noch nicht recht weiß, wie sie sich dort durchschlagen will.

 

Ihr Fall wurde bekannt, weil ihn ein Journalist kürzlich François Hollande vorlegte, verbunden mit der Frage, was der Staatspräsident dazu meine. „Ich würde dieser jungen Person erklären, dass Frankreich ihr Land ist, dass dieses Land sie liebt“, erklärte Hollande mit Inbrunst, aber ohne konkrete Fürsprache. „Es ist meine Pflicht, dieser jungen Frau zu sagen, dass sie hier in Frankreich den Erfolg suchen sollte.“ Viele Franzosen glauben nicht mehr an solche Beteuerungen. Laut einer Umfrage denken 27 Prozent der Job-suchenden Studienabgänger, dass ihre berufliche Zukunft außerhalb Frankreichs liege. Bei der gleichen Erhebung vor einem Jahr waren es nur 13 Prozent gewesen.

Nur Hugenotten, Basken und Savoyer reisten in großer Zahl aus

Frankreich ist ein historisches Einwanderungsland für Südeuropäer und Afrikaner. Für größere Ausreisewellen sorgten einzig die protestantischen Hugenotten im 17. sowie Basken und Savoyer im 19. Jahrhundert. Seiner Heimat den Rücken zu kehren, war unter Franzosen verpönt und stand fast schon im Ruch des Landesverrats. Mit der Wirtschaftskrise ab 2008 hat sich aber vieles geändert. „Wird Frankreich ein Auswanderungsland?“, fragt die Zeitschrift „le nouvel Économiste“. Die wenigen verfügbaren Zahlen sprechen eine klare Sprache: Von den Diplomierten der Pariser Handelsschulen wie etwa der angesehenen HEC zieht ein Fünftel ins Ausland; bei den Ingenieursschulen sind es zehn Prozent. Allgemeinere Zahlen fehlen, da das nationale Statistikamt Insee die Emigranten nicht erfasst. Das sei technisch unmöglich, lautet die Erklärung. Die Zeitschrift „causeur“ meint dazu mit bitterer Ironie: „Diese Zahl will gar niemand kennen. Offiziell gibt es keine französische Auswanderung; schließlich verlässt man nicht einfach das schönste Land der Welt und sein Sozialmodell, von dem wir meinen, dass uns alle darum beneiden.“

Heute vermag das schönste Land der Welt aber seine Jungbürger kaum mehr zurückzuhalten. Laut einer anderen Umfrage von Gallup würden in Frankreich 37 Prozent der Altersklasse 15 bis 24 Jahre auswandern, wenn sie die Mittel dazu hätten. Dazu erschien in der Zeitung „Libération“ ein Aufruf namens „barrez-vous!“ – zu Deutsch: Zieht Leine! „Junge Franzosen, euer Glück ist anderswo“, schrieben darin der Berater Félix Marquardt, der Rapper Mokless und der Journalist Mouloud Achour. Frankreich sei ein „verkalktes, hyperzentralisiertes und altersschwaches“ Land; ein Viertel der Jugendlichen sei ohne Job, und in den Banlieue-Vierteln liege die Zahl doppelt so hoch. Dort glaubten nur noch die immigrierten Eltern an die Vorzüge des Gastlandes Frankreich.

Frankreich belohnt Erfolg nur mit Verachtung

Polemischer schildert der konservative Autor Eric Brunet in seinem neusten Buch „Sauve qui peut“ (Rette sich, wer kann) die Lage auswanderungswilliger Jugendlicher: „Wenn sie von einem Job träumen, offeriert ihnen Frankreich nur seine Bürokratie; wenn sie Kaufkraft verlangen, erschlägt sie das Land mit Steuern – wir zahlen 220 Milliarden mehr an Abgaben als die Deutschen. Und wenn sie schließlich Erfolg haben, belohnt sie Frankreich einzig mit Verachtung.“ Brunet bezieht sich auf Hollandes Spruch, er möge die Reichen nicht, und die Titelschlagzeile, mit der „Libération“ den Umzug des reichsten Franzosen, LVMH-Chef Bernard Arnault, nach Belgien vermeldete: „Hau ab, reicher Depp!“

Dabei zieht es nicht nur gut ausgebildete Franzosen ins Ausland. Auch Einwanderersöhne und -töchter kehren heute ohne Diplome in das Land ihrer Eltern zurück, wo sie über enge familiäre Kontakte verfügen. An Marokkos Stränden verkaufen junge Banlieue-Franzosen Sonnenbrillen und andere Accessoires aus Paris; haben sie damit Erfolg, wollen sie ganz „zurück in die Heimat“ übersiedeln. Maureen Nyamey, deren Eltern von Zentralafrika in die Pariser Banlieue eingewandert waren, zog nach New York und fand dort einen Job im Internetmarketing. „Ich hatte das Gefühl, in Frankreich keinen Platz mehr zu haben, zumal dort alles kompliziert ist“. Abi Traoré, als Kleinkind von Mali nach Paris gekommen, arbeitet in der Londoner City im Finanzbereich. Heimweh kennt sie nicht. „In Mali habe ich meine Wurzeln, in Frankreich mochte ich die Lebenskunst, in England verdiene ich meinen Unterhalt. Und das wird nicht meine letzte Station gewesen sein.“