Mit den in dieser Zeitung veröffentlichten Matheaufgaben haben nicht nur Leser, sondern auch Mathelehrer ihre Not gehabt. Ein Pädagoge aus einem öffentlichen Gymnasium erklärt, warum Schüler Probleme mit dem Stoff haben – und dass sie dafür gar nichts können.

Stuttgart - Matheaufgaben aus der Mittelstufe stellen nicht nur viele Studierende und manchen Leser vor Probleme, sondern auch gestandene Mathelehrer. Dies hat jetzt der Pädagoge eines öffentlichen Gymnasiums in der Region Stuttgart freimütig eingeräumt. Anlass war ein Bericht in dieser Zeitung über den Kampf der Unis mit den Mathelücken ihrer Studierenden und der Abdruck von Beispielaufgaben, an denen fast alle Erstsemester in einer Klausur gescheitert waren. Als Ursachen für diese Entwicklung nennt der Pädagoge ausgedünnte Bildungspläne, die Umstellung auf das achtjährige Gymnasium und zunehmend heterogene Klassen.

 

„Keiner meiner Schülerinnen und Schüler ist in der Lage, auch nur eine dieser abgedruckten Aufgaben zu lösen. Weil sie es in der Schule nicht gelernt haben. Weil derart mehrschrittige Rechnungen nicht verlangt werden und auch aus den Büchern weitgehend verschwunden sind – dies ist auch so gewollt“, sagt der Pädagoge, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er ist fast 20 Jahre als Mathelehrer im Schuldienst und unterrichtet alle Stufen von der fünften bis zur 12. Klasse.

„Seit der Bildungsplan 2004 gültig ist, kann man nachvollziehen, dass das Niveau von Jahr zu Jahr sinkt“, berichtet er. Der Grund sei, dass seither vor allem auf die Vermittlung sogenannter Kompetenzen geschaut werde – „Fachwissen und Fachmethoden bleiben dabei zurück“, stellt er fest. Dazu trage auch die im Bildungsplan festgeschriebene erweiterte Nutzung des Taschenrechners bei. „Die Unis werden also auch in den kommenden Jahren keine Schulabgänger bekommen, die solche Aufgaben händisch zu lösen in der Lage sind“, stellt der Pädagoge bedauernd fest – dabei könnten die Schüler nicht mal etwas dafür. Auch er selbst räumt ein, für die Aufgaben mit der Doppelwurzel habe er „drei Anläufe gebraucht, um sie zu lösen“. Dabei sei dies „gesundes Mittelstufenniveau von früher“. Aber da dies aus den Bildungsplänen entfernt worden sei, fehle inzwischen auch ihm die Übung.

Durch die Umstellung von G9 auf G8 ist Übungszeit weggefallen

Doch es gebe auch noch andere Gründe für die Mathelücken. So mache sich auch die Umstellung von G9 auf G8 bemerkbar, weil somit Übungszeit gestrichen worden sei. Ebenfalls spürbar sei der Wegfall der Grundschulempfehlung. Seither sei die Leistungsbandbreite der Schüler noch weiter auseinander: „Der schnelle Schüler langweilt sich nach fünf Minuten, der andere hat nicht mal zwei Teilaufgaben fertig“, berichtet der Mathelehrer. Als bei ihm in Klasse fünf gleich mal fünf Schüler durchgefallen seien, habe es geheißen: „Sie geben zu schlechte Noten.“ Die Quintessenz sei aber: „Der Übergang von der Schule zur Hochschule ist nicht kompatibel.“ Der Mindestanforderungskatalog der Hochschulen decke sich nicht mit dem Bildungsplan.

Mit diesem Problem befasst sich aktuell auch die Kooperation Schule – Hochschule (Cosh). In Stuttgart gehören dieser Initiative bisher die Hochschule für Technik (HFT), die Hochschule Esslingen und drei Gymnasien an, darunter auch das Königin-Katharina-Stift und das Wirtemberg-Gymnasium; auch das Landesinstitut für Schulentwicklung sei involviert. Erst im Februar habe man bei einem Runden Tisch darüber nachgedacht, wie der Übergang zwischen Schule und Hochschule für Wirtschafts- und Mintfächer angemessen gestaltet werden könne, berichtet Wolfgang Erben. Der Matheprofessor der HFT, Fachgebiet Praktische Informatik, Geometrisches Modellieren, Topologie, bestätigt die Aussagen des Mathelehrers. Den Stoff aus der Mittelstufe hätten viele Studierende nicht mehr parat: „Die können nicht mit Brüchen arbeiten, Prozentrechnen fehlt, die brauchen für zwei mal einhalb den Taschenrechner.“

Weniger Mathestunden in der Schule, aber mehr Studierende an den Hochschulen

Auch Erben bedauert, dass Wurzelgleichungen nicht mehr im Lehrplan stehen – „das hätten wir aber gern.“ Auch aus anderen Gründen dürften die Mathelücken vieler Studierender niemanden wundern. So sei die Stundentafel für Mathe an den Schulen von 44 auf 32 Stunden gekürzt worden. Der Anteil der Studierenden sei aber pro Jahrgang von 30 auf 50 Prozent gestiegen.

Den Brandbrief der 130 Mathelehrer an die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Susanne Eisenmann, hat Erben jedoch nicht mitunterzeichnet. Stattdessen versucht der HFT-Professor, selber an der Gestaltung der Schullehrpläne mitzuwirken, was inzwischen möglich sei. Erste Verbesserungen habe man bereits erreicht – etwa, dass nicht mehr jede Schule ihr eigenes Wahlthema wählen könne und somit die Absolventen künftig nicht mehr mit unterschiedlichsten Vorkenntnissen an die Hochschulen kämen. Mit den Schulen habe man Vorlesungsbesuche vereinbart. Die Hochschule Esslingen und das Wirtemberg-Gymnasium planen gemeinsam einen Mathematik-Zusatzkurs.