Manfred Spitzer hat vor vielen Jahren über das Fernsehen gelästert, jetzt knöpft er sich mit ganz ähnlichem Vokabular das Internet vor. Seine Argumentation ist allerdings nicht nur schief, sondern auch gefährlich.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Zunächst die Essenz von Manfred Spitzers Buch im O-Ton: „Meiden Sie die digitalen Medien. Sie machen, wie vielfach hier gezeigt wurde, tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich.“ Nachzulesen in Spitzers unlängst veröffentlichtem Pamphlet „Digitale Demenz“.

 

Spitzer umschreibt die Wirkung des Konsums digitaler Medien mit fast denselben Worten, die er vor Jahren für seine Thesen zum Fernsehen benutzte. Er müsse das so sagen, betont der Ulmer Psychiater, schließlich sollen seine Warnungen Schlimmeres verhindern. Es gehe ihm um die jungen Leute, deren junge Köpfe „wir“ mit diesem Internet- und Computergefummel „systematisch (. . .) vermüllen“. Weil Politiker, Medien, Kirchen und sogar die Bundesverwaltung schon selbst ganz benebelt seien, fänden sich die Wahrheit und der Weg zum Glück nur bei ihm.

Das kennt man so ähnlich schon von anderen Autoren

„Recht so“, werden manche sagen, „endlich mal einer, der es ausspricht“! Endlich mal einer, der nicht bei diesem neumodischen Zeugs begeistert mitmacht. Und der auch noch mit Wissenschaft daherkommt, ergo nicht irren kann! Netznutzer verblöden, wir haben’s schon immer gewusst.

Solche Fundamentalkritik am Digitalen kennt man inhaltlich wie stilistisch von anderen Autoren. Im Grunde sagt Spitzer nur mit eigenen Worten, was Nicholas Carr anno 2008 mit seiner berühmten rhetorischen Frage behauptet hat: „Macht Google uns dumm?“ Ja, Google macht uns dumm, schreibt, ach was: trötet Spitzer exakt vier Jahre später. Wobei „Google“ für das gesamte Internet steht: das dort gespeicherte Wissen, die Online-Netzwerke, die Spiele und die Suchmaschine selbst.

Mit einigen Studien, darunter etliche von ihm selbst, unterstreicht der Psychiater seine Thesen: Dauer-Onlinepräsenz verändere das Gehirn; Google-Fertigkeiten seien ohne eigenes „Expertenwissen“ nichts wert; wer nur noch alleine vorm PC über Facebook mit seinen Freunden interagiere, degeneriere als soziales Wesen. Da stimmt Spitzer der britischen Neurowissenschaftlerin Susan Greenfield zu: Die kritisierte vergangenes Jahr in einem Interview „die Art und das Ausmaß, wie wir digitale Technologien nutzen“.

Wie nutzt eigentlich Manfred Spitzer die Medien?

Alle genannten Thesen mögen in der Theorie stimmen. In der Praxis werden sich kaum Beispiele finden, weil es die Offline-Welt eben immer noch gibt und das auf absehbare Zeit noch so bleiben wird.

Susan Greenfield erklärte im selben Interview, dass sie nicht die Technologien selbst ablehnt. Manfred Spitzer wird grundsätzlicher: Fernsehen macht blöd, hat er 2005 gesagt. Internet und digitale Medien machen blöd, sagt Spitzer 2012. Also: Weg mit diesem Teufelszeug!

Um den Furor des Ulmer Psychiaters einordnen zu können, hilft ein Blick auf dessen eigenes Medienverhalten. Den Fernseher hat das Ehepaar Spitzer laut eigener Aussage und mit Blick auf seine fünf Kinder abgeschafft. Seit „mehr als einem Vierteljahrhundert“, schreibt Spitzer, arbeite er „nahezu täglich“ am Computer. Vermutlich schreibt er dort Texte und E-Mails, vielleicht hat er auch mal im Internet bestellt – Online-Shopping erwähnte Spitzer bislang nicht als Teil der Demenz-Maschine Internet. Einen Facebook-Account hat Spitzer höchstwahrscheinlich nicht; „World of Warcraft“ kennt er vom Sohn seiner Schwester. Und dann gibt es ja noch wissenschaftliche Studien; zumindest die, deren Ergebnisse die eigene Weltsicht stützen.

Einer wie Sarrazzin

Spitzers dritter Referenzautor heißt Thilo Sarrazin. Auch der tourt mit seinen Thesen durch die Republik und sagt Dinge, die manche Leute gerne hören. Wie Sarrazin gibt sich Spitzer mit seinen Forschungsbezügen einen wissenschaftlichen Anstrich, verknüpft die (oft zweifelhaften) Ergebnisse aber mit seinen vorurteilsgetränkten Anschauungen. Mit dieser alles andere als wissenschaftlichen Argumentation wirkt der Internethasser auf eine Zweiteilung der Gesellschaft hin: die Netzverweigerer hier, die Nutzer da – und beide Gruppen stehen sich ohne Verständnis für die jeweils andere gegenüber. Genau das macht diesen Autor fast so gefährlich wie den Spalter Thilo Sarrazin, der gegen Ausländer und den Euro gewettert hat.

Wie Sarrazins ist auch Spitzers Welt in gut und schlecht eingeteilt. Die Guten bewältigen ihr Leben weitgehend ohne Computer und Internet. Die Schlechten nutzen die neue Technologien und können „kaum verstehen (. . .), wie die Welt ohne Computer und Internet, Handy und iPod, Spielkonsole und digitalen Fernseher ausgesehen hat“. Für den Autor ist erwiesen, dass „digitale Medien bei jungen Menschen zum Bildungsverfall führen können, dass bei ihrer Nutzung kaum sensomotorische Eindrücke entstehen und das soziale Umfeld ( . . .) deutliche Veränderungen und Einschränkungen erfährt“.

Fehlgeleitete Bildungspolitiker und die Lobby

Unnötig zu erwähnen, dass das Netz laut Spitzer für Aufmerksamkeitsstörungen, aggressives Verhalten, Depression, Mobbing und abnehmende Selbstkontrolle verantwortlich ist. Dass es diese Probleme und Leiden schon viel länger gibt als das Internet, bleibt unerwähnt. Zumal die Online-Welt schon immer eine Art Abbild der Offline-Welt war. Hier wie dort macht die Dosis das Gift.

Dass über die Computernutzung in Schulen auch nur diskutiert wird, ist laut Spitzer dem Zusammenwirken von fehlgeleiteten Bildungspolitikern und der Lobby geschuldet. Dass Online und Offline zusammenwachsen, will er nicht wahrhaben. Die radikalen Thesen, die Manfred Spitzer aus dieser Weltsicht entwickelt, machen sich auch in Talkshows gut – zumal keiner die 320 Seiten gelesen haben muss, um mitreden zu können. Vor allem Fernseh- und Internetverweigerer dürften Spitzer zustimmen. Er positioniert sich als ihre Stimme, als Offline-Messias: „Als Psychiater und Hirnforscher kann ich aber nicht anders“, schreibt er in der Einführung. Er wolle ja nur das Beste für die Kinder und die Gesellschaft.

„Ich weiß es besser als ihr“

Das Unerträgliche an Manfred Spitzers Buch sind freilich weniger die Kritik selbst oder ihr pseudowissenschaftlicher Stil. Aggressiv macht die voreingenommene Haltung des Autors: „Ich weiß es besser als ihr.“ Es bleibt zu hoffen, dass dieser Prediger des Rückwärtsgewandten nur zur Belustigung gelesen wird, dass sein quasi-religiöser Furor aber nicht noch mehr Menschen dazu bringt, sich der größten Medienrevolution seit der Einführung des Rundfunks weiter zu entziehen, nur weil sie ad hoc nicht verstehen, was die anderen mit diesem Internet eigentlich machen.