Opa Dave sieht klar, sehr klar. Die Welt steht kurz vor einem Desaster: „Etwas braut sich unter der Oberfläche zusammen. Die Alarmmechanismen sind blockiert. Man ist sediert und wacht erst auf, wenn es knallt.“ Was Opa Dave, ein alter Linker mit grauhaarigem Zöpfchen (Sebastian Röhrle), am Samstag im Schauspielhaus Stuttgart seiner Enkelin Libby zuraunt, klingt wie ein Kommentar zur aktuellen Situation in Israel. Zum Massaker vom 7. Oktober, verübt von der Terrororganisation Hamas an Kindern, Erwachsenen, Greisen.
Die Passage stammt aber aus Joshua Sobols Roman „Der große Wind der Zeit“ aus dem Jahr 2017. Erschreckend hellsichtig erweisen sich der berühmte Theater- und Romanautor und das Staatsschauspiel Stuttgart. Intendant Burkhard C. Kosminski setzte die Dramatisierung des Romans viele Monate vor dem Terrorakt auf den Saisonspielplan des Stuttgarter Staatsschauspiels. Ein Roman, der über vier Generationen hinweg am Beispiel einer in Deutschland, England und Israel spielenden Familiengeschichte von der Liebe, Missverständnissen und der Hoffnung auf Verständigung erzählt.
Im Zentrum stehen zwei Frauen, die israelische Verhörspezialistin Libby, die ihre Familiengeschichte erforscht und dabei auf den Spuren ihrer Urgroßmutter Eva (Paula Skorupa) wandelt, die einen Kibbuz gründete, freie Liebe praktizierte, in Deutschland Ausdruckstanz studierte und später in Israel eine gefürchtete Soldatin war.
Mit keinem Wort wird die aktuelle Situation während der zweieinhalbstündigen Uraufführung erwähnt, sie schreibt sich aber ins Bühnenbild von Katja Haß ein. Ein Hybrid aus einem Betonskelettbau, Panzer und einer Kommandozentrale. Regisseur Stephan Kimmig lässt diesen grauen Koloss bei unheilvoll vibrierenden Klängen effektvoll in Richtung Publikum zufahren.
Ein junges Paar verhört die Vergangenheit
Da kollidiert dann auch sogleich die jüngste Generation – der junge Palästinenser Adib stolpert in seinem blauen Anzug aus dem Ungetümbau heraus und findet sich neben der jungen Israelin Libby im Militäroverall und einem Jihab. Die muslimische Kopfbedeckung soll Vertrauen bei Adib erwecken. Der aber kann nicht mal so gut Arabisch wie Libby, weil er als Kind nach England kam und seither dort lebt und eben kein Terrorist ist, sondern ein die Geschichte Israels erforschender Historiker.
„Wer sind Sie?“, die Frage hat etwas von einem Erweckungserlebnis für Libby – auch Adibs Vorwurf, „dein Großvater hat meine Großmutter vertrieben“. Paula Dombrowsky und Felix Strobel verhören gemeinsam ihre Vergangenheit. Und sie spielen dieses Paar überzeugend: zwei, die wie elektrisiert wirken, einander suchen, aber letztlich Solitäre bleiben. Zumindest so einig sind sie sich, gestehen sie sich ein, beide Geflüchtete zu sein, sie in vierter, er in dritter Generation. Sie alle haben es nicht gut gemacht. Die Geschichte wiederholt sich– schon Libbys Opa Dave und Adibs Oma Jamila waren einmal ein Paar.
Camille Dombrowskys Libby ist eine junge Frau auf der Suche nach einer eigenen Identität, die mit jugendlichem Trotz auf die allzu große Fürsorge ihres politisch rechtsgerichteten Vaters reagiert. Und die mit einem fassungslosen „Echt jetzt, Uroma Eva?“-Blick und geballten Fäusten verfolgt, wie diese im Berlin der 1930er Jahre mit einem strammblonden Nazi (David Müller) im unvermeidlichen Nazi-Ledermantel (Kostüme: Anja Rabes) turtelt. Felix Strobels Adib ist ein kultivierter junger Mann, der Wut und Rachegefühle hinter einer Maske höflicher Zurückhaltung nicht immer verbergen kann. Entsprechend emotionsgeladen sind ihre Dispute darüber, welche Seite mehr Schuld auf sich geladen hat.
Viel Betonmauerschau
Sobol, der in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag feiert, hat den dialogreichen Roman selbst dramatisiert, viele Figuren blieben dabei auf der Strecke, die Handlung aber ist stets nachvollziehbar. In Kimmigs Inszenierung aber, die in Anwesenheit des Autors stattfand, findet viel Betonmauerschau statt, darunter leidet der Spielfluss. Die Regie findet wenige Bilder, um die Handlung ins Dramatische zu überführen. Immer wieder gelingen aber auch amüsante Szenen, etwa, wenn die jungen Leute im Kibbuz darüber diskutieren, wer mit wem schläft und warum. Oder wenn Libby sich ratlos das Blondhaar strubbelnd fragt, wie die Uroma gleich drei oder vier Männer lieben kann, während es ihr schon mit einem schwerfallen würde.
Anrührend wird’s, wenn der israelische Opa Dave und die palästinensische Oma Jamila (Therese Dörr) sich endlich gegenüberstehen und dröhnendes Herzschlag-Pochen zu hören ist. Doch so, wie womöglich ihre Enkel scheitern werden, scheiterten sie schon an den politischen Gegebenheiten.
In diesem ambivalenten Licht von Sobols Werk und angesichts der aktuellen Situation wirkt das final versöhnliche Handausstrecken der Figuren wie eine in ihrer naiven Märchenwunschhaftigkeit übergriffige Geste. Alle Parteien mögen doch jetzt bitte mal alle Politik, allen Horror vergessen und sich vertragen? So einfach könnte es sich nicht mal das Kinderregietheater machen.
Israel im Theater
Autor
Joshua Sobol, Jahrgang 1939, ist einer der bekanntesten Dramatiker und Romanautoren Israels. Ein Welterfolg war „Ghetto“, 1984 von Peter Zadek in Berlin inszeniert. Sobols „Der Kaufmann von Stuttgart“ wurde 2013 im Alten Schauspielhaus Stuttgart uraufgeführt. 2015 folgte das Stück „Blutgeld“. Darin geht es darum, wie sich Deutschland und Israel 1965 annähern. Konrad Adenauer und der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion setzten sich für diplomatische Beziehungen ein – gegen alle Widerstände.
Nahostkonflikt
Joshua Sobols Stück „Der große Wind der Zeit“ im Schauspielhaus: 25. und 28. Februar, 2., 8., 14., 18., 25. und 27. März. Maya Arad Yasurs Performance „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“ (Regie: Sapir Heller) ist am 1. März im Kammertheater zu sehen.