In Hans-Christian Schmids subtilem Drama „Was bleibt“ gerät die Balance einer Familie in Unordnung. Die wie die Bilanz einer Mittelschichtsfamilie wirkende Geschichte spielt, als etwas Unaufgelöstes, im Kopf auch nach dem Film weiter und reift dort lange nach.

Ein Stuttgart - Wochenende mit Familientreffen. Der in Berlin lebende Schriftsteller Marko (Lars Eidinger), Anfang dreißig, ist leicht verspätet, als er seinen fünfjährigen Sohn bei der Frau abholt, mit der er mal zusammen war. Nun geht es auf in Richtung rheinische Provinz, nun geht es zurück ins wohlhabend-bürgerliche Elternhaus. Markos jüngerer Bruder Jakob (Sebastian Zimmler) ist schon da, er hat den Heimatort nicht verlassen und betreibt dort eine Zahnarztpraxis. „Das Tor stand offen!“, sagt er vorwurfsvoll zu seiner Mutter (Corinna Harfouch), die aus dem Garten ihres Bungalows auftaucht. „Mach’s doch zu!“, sagt sie ruhig und sachlich. Es geht hier aber nicht darum, dass keiner eindringt in diesen Familienorganismus, sondern – jedenfalls im übertragenen Sinn – darum, dass keiner herauskommt.

 

Ein Wochenende, ein einziger Handlungsort: Das klingt nach Komprimierung und Zuspitzung, nach hochsymbolisch aufgeladenen Hollywood-Bildern und expressivem Familiendrama wie in Tennessee Williams’ „Katze auf dem heißen Blechdach“ oder nach schreiendem Skandal wie in Thomas Vinterbergs bürgervernichtendem Dogma-Film „Das Fest“.

Die große Geste ist nicht nötig

Auf den ersten Blick aber scheint Hans-Christian Schmid („Requiem“, „Lichter“) seine exzellent besetzte Geschichte ganz anders zu erzählen, ja, sie eher zurückhaltend und beiläufig zu beobachten als wirklich zu inszenieren. Tatsächlich aber ist es ihm und seinem Drehbuchautor Bernd Lange gelungen, so genau hinzuschauen und dabei Alltägliches so unauffällig zu verdichten, dass die beiden schon durch kleinere Irritationen Spannung schaffen und den großen Kinoausbruch, die große Kinogeste gar nicht brauchen.

Als der Vater (Ernst Stötzner) seinen Söhnen eröffnet, er habe seinen Verlag verkauft, klopft auch die von allen Gitte genannte Mutter an ihr Glas – „Volle Deckung“, scherzt ihr Mann – und erklärt, auch bei ihr sei eine Veränderung mitzuteilen, sie habe ihre Antidepressiva abgesetzt, sie fühle jetzt „festen Boden“ unter sich. Und: „Ich gehöre nun zu euch!“ Nein, diese Sätze, auch wenn sie die jahrzehntelange prekäre Balance der Familie ins Wanken bringen, führen nicht zu sofortiger und lautstarker Reaktion, die Zuhörer überspielen das Gesagte und ihre Betroffenheit zunächst routiniert. Marko hat seinen Eltern ja auch nie gesagt, dass er von seiner Frau getrennt lebt, Jakob ihnen nie gestanden, dass seine Praxis, die er dem Vater zuliebe eröffnet hat, nichts abwirft.

Verstecken spielen

Hier, in diesen lichten Räumen, in dieser transparenten Architektur, wird trotzdem Verstecken gespielt, hier mutet man sich keine Wahrheiten zu, hier wird das Wesentliche verschwiegen und verdrängt. Bis es nicht mehr geht. In jeder Szene schwingt die ganze Vorgeschichte dieser Familie mit, wie sich das eingespielt hat, wie ein Beziehungsgeflecht aus Rücksichtnahme, Abhängigkeiten, Eifersucht, Missmut, Opfergefühl und unterdrückter Wut entstanden ist. Das alles drängt nun nach oben, bricht auch mal kurz durch – „Übernimm endlich Verantwortung!“ herrscht Jakob seinen Bruder an –, aber es löst sich nicht auf, es kommt in diesem Film nicht zur großen Explosion.

Der Regisseur, der manchmal die Musik der Band Notwist durch die Bilder schweben lässt, nimmt auch keine eindeutigen Schuldzuweisungen vor. Er hat zwar gewisse Sympathien für den sensiblen Marko, der sich der Familie am weitesten entzogen hat und deshalb wohl den Entschluss der Mutter als Einziger akzeptiert. Aber er versteht auch Jakob, der hier weiterleben muss und nun in jeder Sekunde ihren psychischen Aus- oder Zusammenbruch fürchtet. Und er versteht sogar den Vater, der um seine neu gewonnene Freiheit bangt und um seine Pläne, in denen Gitte keine größere Rolle mehr gespielt hat. Nein, er will Gitte nicht mitnehmen auf seine Reise nach Jordanien, das sei für sie zu anstrengend. Dass das ihm zu anstrengend wäre, und dass sowieso eine andere mitsoll, sagt er natürlich nicht.

Alle lassen sich gehen

Es gibt einen ambivalenten Moment in diesem subtilen und auch voller Nebengeschichten steckenden Film, in welchem die Möglichkeiten dieser Familie und gleichzeitig deren Defekte in eins fallen. Da spielt Marko am Klavier das Aznavour-Chanson „Du lässt dich gehn“ an, und die Eltern singen schließlich mit, voller Inbrunst und fast glücklich, aber auch voller Klage und Wehmut. Und es gibt einen anderen Moment am Ende dieses Films, als dieser sich schon ins Drama hineingeschlichen hat, in dem sein nüchterner Realismus auf ebenso sanfte wie unheimliche Weise transzendiert wird. Nein, diese zunächst so übersichtliche und wie die Bilanz einer Mittelschichtsfamilie wirkende Geschichte gibt nicht alles preis, sie kann auch ein Geheimnis bewahren. Und sie spielt, als etwas Unaufgelöstes, im Kopf auch noch weiter und reift dort lange nach.