Pro 7 hat die Doku „Leaving Neverland“ mit ihren Vorwürfen gegen Michael Jackson endlich gezeigt. Sind wir nun schlauer? Oder haben wir vier Stunden lang Betrügern zugehört?

Stuttgart - Ist man schlauer, wenn man sich vier Stunden lang die Dokumentation „Leaving Neverland“ angesehen hat? Misstrauischer? Ernüchterter? Wütender? Am Samstagabend hat Pro 7 endlich auch in Deutschland die TV-Produktion gezeigt, in der James Safechuck und Wade Robson detailliert schildern, wie sie als Kinder jahrelang von Michael Jackson sexuell missbraucht wurden. Das Fazit hat aber schon vorab die einstündige Doku geliefert, mit der Pro 7 das Idol und Hassobjekt Michael Jackson in Erinnerung bringen wollte: „Ob das alles so geschehen ist, wissen nur die beiden mutmaßlichen Opfer selbst.“

 

Robson und Safechuck gehörten zur Schar jener Kinder, mit denen sich der einst immens populäre King of Pop lieber umgab als mit Erwachsenen. Beide haben – allein und mit ihren Familien – Zeit auf Jacksons Anwesen Neverland verbracht, haben ihn auf Tourneen begleitet, tanzten mit ihm auf der Bühne und standen mit ihm vor der Kamera. Sie schliefen manchmal bei ihm im Bett, angeblich wie Kindergartenfreunde. All das ist unstrittig. Aber was geschah wirklich, wenn Jackson mit den Buben alleine war?

Einschlafen im Jackson-Land

Der britische Regisseur Dan Reed hat keine eigenen kriminalistischen Recherchen unternommen. Im Gegenteil, Michael Jacksons Hardcore-Fans, die alle Vorwürfe gegen ihr Idol als Abzockversuche sehen, werfen Reed vor, er habe Unstimmigkeiten in den Aussagen von Safechuck und Robson nicht bemerkt oder nicht bemerken wollen. Tatsächlich lässt „Leaving Neverland“ zwar die beiden Ankläger und ihre Familien ausführlich zu Wort kommen, lässt aktuelle Gegenstimmen und Zweifel aber außen vor.

Das Gute an „Leaving Neverland“ ist auch das Gefährliche an der Doku: die Tatsache, dass Reed nicht schnell auf ein paar brisante Aussagen hin zuspitzt. Er lässt Robson und Safechuck sowie deren Mütter ausführlich schildern, wie sich eine Beziehung zu Jacksons Musik entwickelte und wie die Kinder überhaupt in die Nähe des Stars gerieten. Wie der eine nicht einmal der größte Fan war, aber als Kinderdarsteller in einem „Pepsi“-Werbespot mit Jackson landete, und der andere im unablässigen Fanfieber lebte, lange bevor er Jacko traf: „Ich schlief im Jackson-Land ein und wachte im Jackson-Land wieder auf.“

Keine anderen Zeugen

Dass uns das sowieso gut Belegbare hier Schritt für Schritt in nachvollziehbaren Innensichten in Ruhe und Ausführlichkeit geschildert wird, verfehlt seine Wirkung nicht: Wir lernen erst einmal, Robson und Safechuck zu glauben. Wenn sie dann Dinge schildern, für die es keine anderen Zeugen gibt, bringen wir diesen Aussagen unwillkürlich mehr Vertrauen entgegen, als wenn wir das alles als Schnipsel eines Nachrichtenbeitrag hingeworfen bekämen.

Zum Prozess der Vertrauensbildung gesellt sich die Suggestivkraft aller Text-Bild-Montagen. Wenn Safechuck und Robson von sexuellen Übergriffen erzählen, zeigt der Film immer wieder Fotos und Videoausschnitte, die unstrittige Momente großer Nähe von Jackson zu den Kindern zeigen: auf der Bühne, hinter der Bühne, in Neverland. Was wir sehen,widerspricht dem nicht, was wir hören. So entsteht nach und nach der falsche Eindruck, wir hätten gesehen, was wir gehört haben.

Angst um den Sonderling

Andererseits sind die Unstimmigkeiten, die manchmal auftauchen, keine Beweise für Lügen. Erinnerungen verschieben sich, Daten verschwimmen, ähnliche und emotional zusammengehörende Ereignisse fließen ineinander, erst recht, wenn es um eher traumatische Erinnerungen geht.

Auch der Umstand, dass Robson und Safechuck das nun Erzählte nicht zu Lebzeiten Jacksons offenbart haben, ja, dass sie Missbrauch auf Nachfrage geleugnet haben, ist kein Beleg dafür, dass sie nun lügen. Beide schildern, welche emotionale Nähe zu Jackson entstand, beschreiben, wie sich die vom Star geweckte Angst vor Bestrafung bei Bekanntwerden der Sexspiele mit Angst um den Sonderling, mit einem Gefühl der Fürsorge und Verantwortung mischten. Es muss nicht so gewesen sein. Unstimmig ist es nicht.

Nichts ist geklärt

Jackson, diese wunderliche, wie aus der Werkstatt eines hexerischen Puppenmachers entlaufene Figur, war eine anormal entwickelte Person in einer völlig anormalen Kunstwelt. Ob die Sexualität dieses Mannes unterentwickelt war, ob sie bei kindlichen Doktorspielen Halt machte, ob da ein besonders verkorkster Fall voll ausgeprägter Pädophilie vorlag, kann auch „Leaving Neverland“ nicht klären. In Zeiten von Fake News muss man fürchten, dass nicht wenige daraus eine falsche Lehre ziehen: dass jeder letztlich immer das glauben könne, was ihm gerade am besten passt.