„Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ ist das letzte Buch der Büchnerpreisträgerin Brigitte Kronauer.

Stuttgart - Die Drehtür zwischen Leben und Kunst lässt das letzte Buch von Brigitte Kronauer noch einmal ordentlich kreisen. Die im Juli verstorbene Schriftstellerin hörte ja – so der Titel eines ihrer großen Romane – das Gewäsch und Gewimmel des Alltags und der vielen Jedermanns gern, weil sie ihm alles zutraute – nicht zuletzt den Ausbruch aus Floskeln und Worthülsen in Sinn und Witz, ins Originelle und Eigene. Wie schwer es sein kann, diese „vollständig irdischen, nicht selten skurrilen Momente einer strahlend und fast geräuschlos aufreißenden Transzendenz“ (Büchnerpreisrede 2005) einzufangen, zeigt „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ jedoch auch. Die „Romangeschichten“ sind zugleich Romanproduktionsgeschichten.

 

Zu Beginn erzählt die Autorin Charlotte, sie sei in das Haus eines Ornithologen und seiner Frau gezogen, die für drei Monate verreist sind. In dem Idyll „mit blauen Schlagläden“ setzen Charlotte allerdings die vielen Zeichnungen von Vögeln zu, während es auf den Spaziergängen durch das unansehnliche und vermüllte Brandenburg die lebenden Exemplare sind. Die Vögel wecken Erinnerungen an Freunde und Bekannte, die dringend aufgeschrieben werden wollen. Um Herrin der Situation zu bleiben, ordnet Charlotte die entstehenden 39 Porträts drei Kategorien zu. Denn alle Figuren, heißt es, durchliefen Stadien des Schönen, Schäbigen, Schwankenden. Allerdings tauchen nach nur sieben Wochen, verstört von schrecklichen Erlebnissen, die Hauseigentümer auf, beenden Charlottes produktiven Arbeitsaufenthalt und bringen die Ordnung des Manuskripts durcheinander. Womit das zweite Kapitel beginnt. Es enthält jene 39 Porträts.

Welch ein Augenblick!

Willkommen auf der anderen Seite der Drehtür zwischen Leben und Kunst, willkommen auch im Gewäsch und Gewimmel. Die Kategorien des Schönen, Schäbigen, Schwankenden sind gewiss nicht falsch, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn das Buch besteht nicht nur aus den 39 Porträts, es enthält nach dem Bericht aus der Brandenburger Schreibwerkstatt im ersten und den Arbeitsergebnissen im zweiten noch weitere drei Kapitel. Der erzählten Autorin ist nicht zu trauen, der sie erzählenden noch weniger.

Die 39 Porträts zeigen Kronauers stupende Erzählkunst. Erstaunlich abwechslungsreich schildern sie auf etwa zehn Seiten Menschen in einem oft unauffälligen, aber das Leben grell beleuchtenden Augenblick. Die nicht mehr ganz junge Franziska etwa ist in der Heiligen Stadt becirct von einem schönen Mann, der erst an ihr vorüberging, dann wieder näher kommt, so nahe, dass die liebeserfahrene Franziska zitternd zu wissen meint, was gleich geschehen wird und die Augen schließt – würde da nicht plötzlich ein Vespa-Motor aufheulen und sich schnell entfernen, mitsamt dem Schönen und auch ihrer Handtasche, was Franziska erst nach vielen Gläsern in der Trutzburg ihrer Wohnung realisiert.

Was denn jetzt vergessen?

Ähnlich ergeht es den übrigen 38 Gestalten. Ihnen werden Augenblicke der Erkenntnis oder des zersetzenden Zweifels zuteil. Trost ist die Aufgabe dieser Epiphanien nicht. Kronauer wendet sich ihren Figuren mit garstiger Zärtlichkeit zu. Die kapriziöse Veronika, bewundert von ihrer Umgebung, wird durch eine beiläufig hingesagte Bemerkung entzaubert („Veronika sieht genauso aus wie die Art-déco-Schöne als Flachrelief auf meiner alten Wiener Keksdose“). Ein Vogelkenner und Fotograf erweist sich als trauernder Witwer in den Trümmern von 40 „sehr guten Ehejahren“. Und Herr Ritter muss beharrlich denken „Wie sollte ich das je vergessen!“ Nur was je vergessen? Er weiß es nicht, der Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, der eine hässliche, aber reiche Frau geheiratet hat und in den Kreisen seiner Schwiegereltern immer ein Geduldeter bleiben wird.

Irritierenderweise folgen auf die Porträts drei weitere Geschichten in eigenen Kapiteln. Die Leichtigkeit weicht nun allerdings zuweilen einem schwerfälligeren Ton, so, als ob die Erzählerin Charlotte dem Geschehen noch zu verhaftet ist. Denn am Ende wünscht sich ihr Ehemann Paul noch etwas „Ausgedachtes“, und dieses letzte Kapitel bietet mit Bildbeschreibungen, wie sie Kronauer immer wieder und hochdramatisch in ihren Romanen benutzte, einen Schlüssel zu den „Romangeschichten“.

Am Ende bleibt nur die Sehnsucht

In „Grünewald“ erläutert ein vereinsamter Rentner seiner verehrten Haushälterin einige Tafeln des Isenheimer Altars. Als Frau Schmetz mit ihrem Sohn bei ihm einzieht, weil der persische Vater ihres Kindes sie im Streit verlassen hat, werden die Bildinterpretationen inniger, und Frau Schmetz wird zur Angebeteten, der der 90-jährige Witwer beinahe die Ehe anträgt, die der Perser nicht eingehen wollte. Dann taucht dieser wieder auf, und der von einer glücklichen Frau Schmetz und ihrem Sohn verlassene Herr Waldenburg besieht eine Tafel, die er bislang übersehen hatte . . . Grünwald malte Stationen der Passionsgeschichte, Brigitte Kronauer erzählt vielstimmig und abwechslungsreich von nicht weniger entscheidenden Momenten mitsamt der sie stets übersteigenden Sehnsucht. Christlichen Trost bietet die Hamburgerin nicht, aber auch Grünewald, lässt sie Waldenburg festhalten, malte auf der letzten Tafel keinen Gottvater. „Der Himmel ist verschlossen“, dem Menschen bleibe nur die Sehnsucht.