Im Wohnzimmer des bescheidenen Bungalows am Rande der einstigen US-Stahlstadt Birmingham liegt allerhand Spielzeug herum. Ein Schaukelpferd steht in der Ecke. Draußen auf der Veranda parkt ein weißes Miniaturcabrio. Das gehört Ladner. Der Dreieinhalbjährige ist gleich zur Tür gestürmt, als es geklingelt hat. Man ahnt: Der Junge spielt in der Familie die Hauptrolle.
„Ladner“, sagt Veronica Wehby-Upchurch, „war ein großer Glücksfall.“ Sie meint es wörtlich. Fast zwei Jahre lang hatte die Mitarbeiterin eines Gesundheitsverbandes mit ihrem Mann nach der Hochzeit versucht, schwanger zu werden. Aber auf natürlichem Weg klappte es nicht. Schließlich entschied sich das Paar aus Alabama für eine sogenannte In-vitro-Fertilisation (IVF), bei der entnommene Eizellen im Reagenzglas mit Sperma befruchtet, zu Embryonen entwickelt und wieder in die Gebärmutter eingesetzt werden. Doch zwei Versuche misslangen, die Schwangerschaft nach dem dritten Transfer endete mit einer Fehlgeburt. Es dauerte drei weitere lange Jahre, bis das Paar sein Wunschbaby in den Armen halten konnte.
„Schon vor der Geburt tragen alle menschlichen Wesen das Antlitz Gottes“
So eine IVF-Behandlung sei belastend, berichtet die Mutter: „Alles ist eine Frage des richtigen Zeitpunkts.“ Die Hormonbehandlungen, der Wechsel von Hoffnungen, quälendem Warten und Enttäuschung: „Das ist physisch und emotional nicht einfach.“ Halbernst bemerkt die 41-Jährige, ganz billig sei die Sache auch nicht, weil die Krankenversicherung in den USA dafür meist nicht aufkommt: Rund 50 000 Dollar hat sie die Behandlung gekostet, die ihr ihren Sohn und zwei eingefrorene Embryonen beschert hat, die nun in einer Fertilitätsklinik lagern.
Entsprechend empört war Veronica Wehby-Upchurch, als sie Mitte Februar von einem folgenreichen Urteil des Supreme Courts von Alabama erfuhr: Das oberste Gericht des strengkonservativen Südstaats hatte Embryonen die gleichen Rechte wie Kindern zugesprochen. Damit erfüllt die Entsorgung überzähliger Zellklumpen selbst wenige Tage nach deren Befruchtung den Tatbestand der Tötung. Zur Begründung führte der Vorsitzende Richter Tom Parker allerhand Bibelzitate an und befand: „Schon vor der Geburt tragen alle menschlichen Wesen das Antlitz Gottes.“ Damit war die gängige IVF-Praxis de facto verboten. Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung stellten die Kinderwunschzentren in Alabama über Nacht ihre Arbeit ein.
Donald Trump holte 62 Prozent der Stimmen in Alabama
„Niederschmetternd“ sei das für Freundinnen gewesen, die sich gerade mitten in einem Behandlungszyklus befanden, sagt Wehby-Upchurch. Sie und ihr Mann sorgten sich wegen ihrer zwei gefrorenen Embryos. Auch anderswo verursachte das Urteil mächtig Stress. Ein paar Kilometer entfernt im wohlhabenden Vorort Mountain Brook hatte Familienanwältin Ashleigh Dunham aufgebrachte Klienten am Telefon, die wissen wollten, was nun mit ihren – in den USA legalen – Leihmutterschaften oder vertraglich vereinbarten Embryonenspenden passiert. Die renommierte Juraprofessorin Susan Pace Hamill aber, die seit 30 Jahren an der University of Alabama in Tuscaloosa lehrt, befiel ein Anflug von Resignation. Das oberste Gericht des Bundesstaats habe schon oft „extreme Entscheidungen“ gefällt, berichtet sie.
Tatsächlich wird nicht nur Alabamas Supreme Court von Ultrarechten beherrscht. Die Republikaner dominieren mit Zweidrittelmehrheit auch beide Häuser des Parlaments und halten das Gouverneursamt. Noch in den 1980er Jahren wurde hier ein schwarzer Jugendlicher vom Geheimbund Ku-Klux-Klan gelyncht. Bei der vorigen Präsidentschaftswahl holte Donald Trump satte 62 Prozent der Wählerstimmen. Als im Sommer 2022 das US-weite Abtreibungsrecht fiel, trat in Alabama noch am selben Tag ein absolutes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen selbst nach Inzest und Vergewaltigung in Kraft.
„Rücksichtslose Entscheidung“ des Gerichts
Umso bemerkenswerter ist, was dann aber kurz nach dem De-facto-Verbot der künstlichen Befruchtung passierte: Plötzlich standen vor dem Parlament in Montgomery ein paar hundert Demonstrantinnen und Demonstranten – unter ihnen auch Veronica Wehby-Upchurch mit ihrem Sohn Ladner und einem Plakat, auf dem stand: „IVF hat mich zur Mama gemacht!“ Empörte Konservative protestierten bei ihren republikanischen Abgeordneten. Und Bruce Pearl, der populäre Trainer der Herren-Basketball-Mannschaft Auburn Tigers, nutzte eine Vereinspressekonferenz für ein spektakuläres Outing. „Ich bin sehr konservativ und gegen Abtreibung“, erklärte der Coach. Dann sagte er, dass sich seine Schwiegertochter in einer In-vitro-Behandlung befände. Durch die „rücksichtslose Entscheidung“ des Gerichts drohe die nach Jahren des Wartens endlich bevorstehende Schwangerschaft zu scheitern, wetterte Pearl: „Die Regierung sollte meinem Sohn helfen, ein Kind zu haben, statt ihn daran zu hindern.“
Kurz darauf legte das Landesparlament eine 180-Grad-Wende hin: Gerade mal zwei Wochen nach der Entscheidung des Supreme Courts beschlossen die Abgeordneten eine Immunität für Fertilitätskliniken und ihre Patienten. Beide können in Alabama nun für die Vernichtung überzähliger Embryonen rechtlich nicht mehr belangt werden. Damit läuft der Gerichtsspruch ins Leere.
Rund 100 000 Kinder aus künstlicher Befruchtung
Um den rasanten Kurswechsel zu verstehen, muss man wissen, dass die Reproduktionsmedizin in den USA – anders als in Deutschland – kaum reglementiert und entsprechend weit verbreitet ist: Rund 100 000 Kinder oder 2,5 Prozent aller Babys kommen hier nach Expertenschätzungen jährlich nach einer IVF-Behandlung zur Welt. Auch viele konservative Paare gehen diesen Weg.
Das Immunitätsgesetz umfasst gerade mal zwei Seiten. Die Kinderwunschzentren öffneten wieder. Viele Frauen waren erleichtert. „Ich bin froh“, sagt auch Wehby-Upchurch. Doch die Mutter ahnt: „Die haben das Problem auf die Zeit nach der Wahl vertagt.“ Tatsächlich haben die Republikaner jede Festlegung zum Rechtsstatus des Embryos vermieden. Eine gesetzliche Verankerung der künstlichen Befruchtung lehnen sie ab. „Das ist allenfalls eine Notlösung“, urteilt deshalb Anwältin Dunham und warnt: „Diese Leute haben eine Agenda. Die wollen uns täuschen.“ Auch Juraprofessorin Hamill ist überzeugt: „Die Sache ist nicht vorbei.“
Religiöse Eiferer testen in Alabama immer wieder Grenzen aus. Schon in ein paar Monaten kann eine neue Klage vor Gericht landen, und die Richter könnten dann so enge Auflagen für die künstliche Befruchtung vorgeben, dass diese praktisch unmöglich würde. Oder konservative Gruppen treiben den Streit über die Immunität der Kliniken bis vor das höchste US-Gericht, den Supreme Court in Washington.
In 14 Bundesstaaten laufen parlamentarische Initiativen
„Das ist meine größte Sorge“, gesteht Hamill. Sollten sich die mehrheitlich konservativen Richter des US-Supreme Courts nämlich der Auffassung ihrer Kollegen aus Alabama anschließen und Embryonen rechtlich mit Kindern gleichstellen, käme dies einem Erdbeben für die Frauenrechte gleich. Dann wären wahrscheinlich alle liberalen Gesetze zu Abtreibung und Reproduktionsmedizin auch in progressiven Regionen wie New York oder Kalifornien hinfällig. „Das ist eine reale Möglichkeit“, warnt die Juraprofessorin.
Anderswo in den USA treibt die religiöse Rechte ihren Kampf gegen die künstliche Befruchtung schon ungebremst voran. In insgesamt 14 Bundesstaaten laufen parlamentarische Initiativen, befruchteten Eizellen per Gesetz Persönlichkeitsrechte zuzusprechen. Für viele Familien mit Kinderwunsch sind das düstere Perspektiven. Doch die Demokraten wittern in dem neuen Kulturkampf auch eine politische Chance: Sie wollen die künstliche Befruchtung im Präsidentschaftswahlkampf offensiv verteidigen. Auch im konservativen Alabama rückt die Partei von US-Präsident Joe Biden die Reproduktionsrechte weit nach oben auf ihrer Agenda.
Auch Probleme für republikanische Frauen
Der schlichte Bürobau, in dem die Zentrale der Demokraten untergebracht ist, liegt nur einen Block vom Parlament in Montgomery entfernt. Im Vergleich zu dem von den Republikanern beherrschten mächtigen Kapitol wirken die Büros der Biden-Partei winzig. Kommunikationsdirektorin Sheena Gamble macht sich keine Illusionen, dass Trumps Anhänger in Alabama massenhaft die Seite wechseln werden. Aber auch republikanische Frauen, die Schwangerschaftsabbrüche strikt ablehnen, seien von Unfruchtbarkeit persönlich betroffen, betont sie: „Wir hoffen, dass diese Frauen anfangen zu begreifen, wie schnell der Streit über die Abtreibung auch zu ihrer Sache werden kann.“
Rund 150 Kilometer nördlich, in Birmingham, bereitet sich Veronica Wehby-Upchurch derweil auf eine neue IVF-Behandlung vor. Wenn die Ärzte grünes Licht geben, will sie sich in diesem Jahr einen ihrer eingefrorenen Embryos einpflanzen lassen. Ladner soll ein Geschwisterchen bekommen. „Ich werde bald 42. Da wartet man besser nicht länger“, sagt die Mutter. Ein bisschen mulmig sei ihr schon: „Ich hoffe, das sich die Rechtslage nicht noch einmal ändert.“