Es wirkt aus der Zeit gefallen, trotzt dem Zeitgeist aber mit Erfolg: Das Friseurgeschäft Schneider im Bietigheimer Stadtteil Bissingen gibt es seit 110 Jahren.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Bietigheim-Bissingen - Jetzt beugst du deinen Kopf runter und bleibst ruhig sitzen!“ Die knappe, etwas harsch wirkende Ansage von Friseurmeister Gerhard Schneider – 72 Jahre, Holzfällerhemd mit umgekrempelten Ärmeln, Jeans und weiße Bequem-Pantoffeln an den Füßen – richtet sich an Manfred Klabunde. Der 85-Jährige lächelt still in sich hinein und folgt der Anweisung artig. Hinter Schneiders Knarzigkeit verbirgt sich eine Art zärtlicher Vertrautheit. Der Friseur und sein Kunde kennen einander eine halbe Ewigkeit. Einst, als er noch bei der Gelenkwellen-Firma Elbe & Sohn arbeitete, ging Klabunde – haarschneidetechnisch gesehen – zwar fremd und ließ die Frisur in der Fabrikpause von kundigen Kollegen auf Vordermann bringen. Aber das ist Jahrzehnte her. Seither begibt er sich, wenn das Resthaar übers Ohr zu wuchern droht, in Gerhard Schneiders Reich.

 

Kontrastprogramm zur Welt der Hairdesign-Hipster

Es ist ein Reich, das aus der Zeit gefallen wirkt – das komplette Kontrastprogramm zu den Salons stylisher Hairdesign-Hipster, für die Schneider nur ein Zucken mit der Augenbraue übrig hat. Currybraune Glanzledersessel, geblümelte und bunte Friseurumhänge, beiges Grundig-Radio aus den 50er-Jahren, Reader’s-Digest-Stapel auf der Fensterbank: So retro, wie dieser Salon in der Jahn-straße im Bietigheimer Stadtteil Bissingen daherkommt, könnte das kein Mensch designen.

Der Inhaber selbst ist wie sein Geschäft. Auf geschleckte, glattpolierte Optik pfeift er. Er macht nicht viele Worte, auch im Understatement ist er Meister. Dass sich mancher Kollege heutzutage Haar-Künstler nennt, entlockt ihm nur ein kurzes, trockenes Lachen und die Bemerkung: „An Einbildung sind ja viele schon gestorben.“ Friseurgeschäfte kommen und gehen. Seines besteht seit 110 Jahren. Er führt es in der dritten Generation.

Wellness war damals noch kein Thema

Sein Großvater Friedrich hatte sich 1909 in Brackenheim selbstständig gemacht. „Damals ist man noch nicht wegen der Mode zum Friseur gegangen“, kommentiert Schneider. Männer pomadisierten sich die Haare mit Karrensalbe, warmes Wasser brachte man in der Milchkanne selbst zum Friseur mit, und beim Haarewaschen mit laugenbasierter Seife wäre kaum jemand auf den Begriff „Wellness“ gekommen. „Samstags und sonntags wurde nur rasiert“, erzählt der Chef. 1927 zogen die Schneiders nach Bissingen. Als Friedrich Schneider 1937 starb, betrieb seine Frau Wilhelmine das Friseurgeschäft weiter.