Die aktuelle Corona-Verordnung ermöglicht wieder volle Säle bei Kulturveranstaltungen. Das Publikum findet aber nur zögerlich den Weg zurück. Ein Blick auf die Situation in Stuttgart.

Stuttgart - Haben die Menschen noch Angst vor der Ansteckung? Haben sie in Corona-Zeiten gelernt, sich in den eigenen vier Wänden behaglich einzurichten? Ist auch das Stuttgarter Publikum, eines der treuesten und kunstaffinsten Deutschlands, träge geworden? „Momentan“, stellt die Leiterin des Studio-Theaters, Ester Bernhardt, fest, „ist die Kartenvorbestellung wirklich traurig.“ Ähnliches bemerken die Geschäftsführer der Konzertdirektion Russ, Michael und Michaela Russ – und haben deshalb beschlossen, ihre vier Klassik-Konzertreihen nur Geimpften oder Genesenen zugänglich zu machen. „Bestmöglich schützen“ wollen sie mit ihrer 2G-Regelung ihre Besucher. Ängsten entgegentreten. Das wirtschaftliche Risiko nehmen sie dafür in Kauf.

 

Für Jürgen Schlensog, den Leiter des noch laufenden Festivals Jazz Open, ist ein gravierender Grund für die Zurückhaltung des Publikums die allgemeine Verunsicherung: Bis zum Wegfall der alten Inzidenzregelung vor vier Wochen sei nicht klar gewesen, ob die Jazz Open tatsächlich stattfinden können, und Besucher dieses Festivals suchten sich ihre Konzerte frühzeitig aus. Etliche Fans warteten auch schlicht auf „ihre“ Künstler, um die Gutscheine für deren ausgefallenen Konzerte einlösen zu können, und kauften nicht noch zusätzliche Karten. „Außerdem“, so Schlensog, „gibt es Bedenken zum Ansteckungsrisiko bei Großveranstaltungen.“ Bisher allerdings hätten die Jazz Open, die mithilfe der Luca-App die Kontaktnachverfolgung sichern, vom Gesundheitsamt keine positiven Covid-Befunde gemeldet bekommen.

Unsicherheit wegen der wechselnden Corona-Regeln

Von „Zurückhaltung“ spricht auch Arnulf Woock von den Pop-Veranstaltern Michael Russ und Musiccircus. „Einerseits sind viele Leute ein bisschen ausgehungert, andererseits ist für diesen Herbst momentan nicht so genau einschätzbar, ob und wie die Regelungen sich noch ändern. Das hält sicher manche ab.“ Immerhin, so Woock, gebe es ein auffällig „großes Interesse an Terminen für 2022, die neu in den Verkauf gehen. Bei Scooter im März, Zaz im Mai und Steve Hackett im Juli sind wir sehr zufrieden mit dem Vorverkauf.“

Auch Axel Preuß, der Intendant der Schauspielbühnen in Stuttgart (Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt), will sich nicht beklagen. Am Freitag findet im Alten Schauspielhaus die Premiere Peter Shaffers „Amadeus“ statt. „Wenn alle jene erscheinen, die vorab Tickets gekauft haben, bin ich ein sehr glücklicher Mensch“, sagt er. Diejenigen, die noch etwas unsicher sind, ob sie jetzt schon wieder in einem voll besetzten Theatersaal Platz nehmen wollen, seien nur eine kleine Gruppe. Vor allem sei ein „großes Aufatmen“ und auch eine „große Zuversicht“ zu spüren – gepaart allerdings mit der Sorge, dass alles damit steht und fällt, dass sich möglichst viele impfen lassen.

Zuversicht strahlen auch die Staatstheater zu Beginn der neuen Spielzeit aus: Einige Vorstellungen, so der Geschäftsführende Intendant Marc-Oliver Hendriks, seien bereits ausverkauft, bei anderen gebe es nur noch Restkarten. Wobei die Staatstheater noch auf das Schachbrettmuster setzen – aber nur bis November. Dann sollen Theater, Oper und Ballett wieder vor vollen Sälen spielen.

Dauer-Optimismus beim Stuttgarter Ballett und beim SWR

Ob diese Säle dann wirklich voll sind, wird sich zeigen. Vor allem das begehrte, in der Vergangenheit oft ausverkaufte Stuttgarter Ballett strotzt vor Optimismus. Beim Neustart im Juni hatte sich dessen Intendant Tamas Detrich noch über die zögerliche Haltung des Publikums gewundert, aber die scheint nun verflogen. Vor allem das Interesse an den großen Handlungsballetten, so Detrich, sei „nach wie vor groß“.

Kein Problem gibt es auch, sobald der Chef Teodor Currentzis am Pult des SWR-Symphonieorchesters steht: In der vergangenen Woche war der Beethovensaal zwei Mal gut besucht – trotz zurzeit noch ausgesetzter Abonnements und trotz eines reinen Prokofjew-Programms. „Wir können“, so die Orchestermanagerin Sabrina Haane, „zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau einschätzen, wie sich unsere Publikumszahlen in den kommenden Monaten entwickeln werden.“ Der Abonnementbetrieb werde erst im November wieder aufgenommen; man sei aber optimistisch, weil der Einzelverkauf für die Currentzis-Konzerte besser gelaufen sei als in Vor-Corona-Zeiten. „Und die euphorischen Reaktionen des Publikums lassen darauf schließen, wie sehr die Menschen Live-Konzerte vermisst haben.“

Buchungen sind eher kurzfristiger Art

Es gibt „höhere Werte als der schnöde Mammon“, sagt Michael Panzer. Als Frl. Wommy Wonder hat es ihm sehr gut getan, sechs Wochen lang im Theater der Altstadt am Feuersee aufzutreten. „Doch wirtschaftlich darf man das nicht näher beleuchten“, sagt der Travestiekünstler, „sonst kommt man aus dem Heulen nicht mehr heraus.“ Sein Fazit: „Selbst bei überschaubarer Anzahl in den Reihen waren die Auftritte fürs Seelenwohl wichtig.“ Seltsam ist für Panzer, „dass sich die Ängste ausschließlich aufs Theater beziehen und die Leute dann dicht an dich in den Kneipen sitzen“.

Club mit ordentlichem Andrang

Das Palazzo hat für diese Saison alles abgesagt, wohl auch, weil Firmenbuchungen im gewohnten Umfang ausblieben. Timo Steinhauer, der Chef des Friedrichsbaus, kann diese Entscheidung nachvollziehen. „Auch für uns bedeutet Spielen ein hohes Risiko, aber als Stuttgarter Stammhaus möchte ich dem Publikum wieder Varieté-Shows präsentieren“, sagt er. Eintägige Gastspiele laufen im Friedrichsbau „sehr gut“. Beim neuen Ensuite-Programm, das zwei Monate dauert, würden viele Gäste die aktuelle Entwicklung abwarten: „Die Buchungen kommen, aber sehr kurzfristig.“

Colyn Heinze vom Club Kollektiv ist froh, dass wieder was geht. In den Clubs werden nach seiner Einschätzung „die Vorgaben wie 2G/PCR-Nachweis konsequent umgesetzt“. Damit könne man sich wieder mit geringem Risiko unter die Leute mischen und auf neue Weise Nähe und Kultur erleben. „Sicher haben einige auch weiterhin berechtigte Bedenken“, sagt er. Doch die müssten „nach und nach abgebaut werden“. Die bisher geöffneten Clubs, berichtet Heinze, „freuen sich auf jeden Fall über einen ordentlichen Andrang“. Gerade jungen Menschen hätten die langen, intensiven Nächte gefehlt.