Kulturhauptstadt-Jahr in Chemnitz eröffnet Musikalischer Mischmasch mit Marx

Omar Massa hat zur Eröffnung vor dem Karl-Marx-Monument auf dem Bandoneon gespielt. Leider nur ein Stück. Foto: dpa/Hendrik Schmidt

2025 trägt die Stadt Chemnitz den von der EU verliehenen Titel Kulturhauptstadt Europas. Mit Demokratiebeschwörungen ranghoher Politiker, viel Musik und einem Wunsch-Kunst-Automaten ist das Kulturhauptstadt-Jahr am Wochenende eröffnet worden.

Wenn autoritäre Herrscher stürzen, dann bringen Bürger gerne auch die Statuen zu Fall, die ihre Regentschaft symbolisieren, und trampeln auf ihnen herum. Nicht so in Chemnitz: Das Karl-Marx-Monument steht nicht nur unversehrt in der Brückenstraße, die Macher der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 haben sogar die Bühne für ihre Eröffnungsshow um den Bronze-Kopf herum gebaut. Marx fungiert so mitsamt seinem Bart als integriertes Bühnenbild beim Auftakt eines Jahres, bei dem allenthalben die Demokratie beschworen wird: „Wenn Kultur das Herzstück unserer Demokratie ist, dann schlägt es dieses Jahr in Chemnitz“, sagt die Kulturstaatsministerin Claudia Roth acht Stunden vor Showbeginn bei einer Pressekonferenz.

 

Als die sich ihrem Ende zuneigt, wird Glenn Micaleff, der Kulturkommissar der EU, gefragt, ob es außer in Chemnitz in der 40-jährigen Geschichte der Kulturhauptstädte Europas schon vorgekommen sei, dass Gegner des Projekts am Eröffnungstag gegen die Kulturhauptstadt demonstriert hätten. Micaleff beantwortet die Frage nicht wirklich, er erklärt, dass Werte täglich gelebt werden müssten. Sven Schulze, der Oberbürgermeister von Chemnitz, sagt, die Gäste würden eine „ehrliche, bodenständische Stadt“ vorfinden, „keine Hochglanzbroschüre“. Andrea Pier, die kaufmännische Geschäftsführerin der Chemnitz 2025 gGmbH, preist „125 Projekte“, aber Stefan Schmidtke, der Programmgeschäftsführer, korrigiert: Seine Kollegin würde alle Tabellen parat haben, aber „sie hat einen kleinen Fehler gemacht, wir haben nicht 125 sondern 225 Projekte.“

Stehender Applaus für den Präsidenten

Wenn man danach das Carlowitz Congresscenter verlässt, könnte man meinen, an diesem Tag fände in Chemnitz eine Art Deutschland-Treffen des Sicherheitsgewerbes statt: Unzählige Security-Männer bewachen Absperrungen und eine Lokomotive, die später von Menschen mit Seilen durch die Stadt gezogen werden wird. Auch die Polizei zeigt Präsenz.

Tatsächlich folgen am Nachmittag rund 400 Demonstranten, viele Fahnen tragend, dem Aufruf der vom sächsischen Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei Freie Sachsen zur Kundgebung gegen das immer auch für Offenheit und Vielfalt werbende Projekt Kulturhauptstadt, und mindestens doppelt so viele Leute demonstrieren, oft mit Luftballons, lautstark gegen die Rechten. Während die Luftballon-Träger unweit des Karl-Marx-Monuments ihre eigene Musik machen, marschieren die Fahnenträger gegen 15.30 Uhr „Wir sind das Volk!“ rufend an der Oper vorbei, wo sich geladene Anzugträger zum Festakt versammelt haben. Der Präsident kommt als letzter: „Meine Damen und Herren – der Bundespräsident“, sagt eine Stimme aus dem Off, und alle stehen auf und die meisten klatschen, als sich Frank-Walter Steinmeier in die erste Reihe setzt und auch Richtung der oberen Ränge winkt – vielleicht nicht ganz so gerührt wie Bob Dylan neulich in der Londoner Royal Albert Hall – eher routiniert. Womöglich begreifen die Chemnitzer den frenetischen Empfang für den Präsidenten auch als eine Ausdrucksart demokratischen Selbstverständnisses. Die Kulturhauptstadt böte viele Möglichkeiten, sagt Steinmeier wenig später in seiner Rede: „Sie können erproben, wie es ist, sich einzumischen.“

Frank-Walter Steinmeier hat in Chemnitz die Demokratie beschworen. Foto: dpa/Jan Woitas

Wenngleich die meisten Chemnitzer, womöglich sogar die meisten Menschen überhaupt, bereits Erfahrung in dieser Disziplin gesammelt haben dürften, wird Steinmeier in der Oper durchweg freundlich begleitet. „Dort, wo die große demokratische Mitte Räume schafft, ist für die Verächter der Demokratie kein Platz“, sagt er. Michael Kretschmer, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, radelt auf der Bühne und bezeichnet die Chemnitzer als „erdverbunden und „ehrlich“, und auch sonst verfügt der Festakt für 700 Geladene – im Gegensatz zur Eröffnungsshow für 20 000 Frierende, aber dazu später – über eine ansprechende Dramaturgie, die im quirligen Zusammenspiel der Robert-Schumann-Philharmonie mit einem Solisten am Bandoneon gipfelt, weil das Instrument seinen Ursprung einst in Chemnitz hatte und zuerst dort produziert wurde, wo seit 1971 Karl Marx thront.

Auch schön: Der Wunsch-Kunst-Automat, der in der Stadthalle einen Ausblick auf das erste Kulturhauptstadt-Jahr in Deutschland bietet, seit Essen und das Ruhrgebiet 2010 den im Idealfall sowohl den Tourismus als auch die regionale Kulturszene befördernden Ehrentitel trugen.

Man notiert seinen Wunsch für das Jahr auf einem Zettel, „Frieden und viel Liebe“ zum Beispiel, oder „Neues Image für Chemnitz“. Ein kleiner Junge schreibt „Weiß ich nicht“ („mit n wie Nilpferd“, rät sein Vater). Dann wirft man den Zettel in den Schlitz einer Sperrholz-Kiste, in der Künstler sitzen. Ein paar Minuten später spuckt der Automat Holzschnitt-artige Collagen in Postkartengröße aus, die Spielraum für Interpretationen lassen.

Nicht immer wird die Begeisterung optimal befeuert

Alsbald wird im Stadtzentrum Musik gemacht: Auf der größten Bühne am Neumarkt huldigen Alexander Scheer und Andreas Dresen mit Band dem DDR-Liedermacher Gerhard Gundermann: „Noch fliegt die schwarze Galeere weit / über die Meere und durch die Zeit.“ Auf der kleinsten am Jakobikirchplatz spielt das Trompetenquartett der städtischen Musikschule: „Bei Blechblasmusik ist immer ein bisschen Weihnachten dabei“, weiß sein Leiter. Und nach dem nicht öffentlichen Festakt, bei dem wie bei der Pressekonferenz auch Filmschnipsel mit Schaumfetzen und Leuten in kurzen Hosen gezeigt wurden, wollen so viele Reihen von Menschen die durch die Straße der Nationen gezogene Lokomotive sehen, dass man die Ziehenden nicht mehr sieht.

Die Begeisterung ist da in Chemnitz. Aber sie wird nicht immer optimal befeuert: Während vor einem Jahr bei der Kulturhauptstadt-Eröffnung im österreichischen Bad Ischl eine zentrale Ausstellung, die ebenfalls Bodenschätze thematisierte, am Eröffnungstag bei freiem Eintritt bis tief in die Nacht geöffnet war und so zum Happening wurde, schließt die Chemnitzer Schau „Silberglanz und Kumpeltod“ auch am Eröffnungstag um 18 Uhr, und am Eintrittskarten-Kontrollpunkt, der in Bad Ischl gar nicht erst für notwendig befunden wurde, versucht man, mit Presse-Armband und Presse-Halsband ausstaffierten Besuchern auch noch Aufkleber auf die Jacke zu pappen mit der Begründung: „Meine Kollegen müssen Sie erkennen!“

Große Freiheit im kleinen Gemäuer

Oder die Präsentation des Leuchtturm-Projektes „#3000 Garagen“: Die ersten von angeblich mehr als 150 Fotografien von Garagenbesitzern sind in der Stadt kaum sichtbar, obwohl Iris, die Besitzerin einer von angeblich sogar 30 000 Garagen in der Stadt, mit Löwenzahn hinterm Ohr und in der Hand hinreichend versonnen inszeniert worden ist, um die Sehnsucht nach großer Freiheit im kleinen Gemäuer zu illustrieren.

Und für den Skulpturenpfad „Purple Path“, der als weiteres Großprojekt die Stadt Chemnitz mit 38 am Kulturhauptstadt-Jahr beteiligten Kommunen der Region verbinden soll, ist es wohl schlicht noch zu kalt.

Oder die Eröffnungsshow mit Marx: Sie beginnt vielversprechend mit Musikern auf den umliegenden Hochhausdächern, gerät dann aber zu einer etwas beliebig wirkenden Nummernrevue, in der die Kleinkünstlerin Anna Mateur mit lokalen oder auch derben Scherzen versucht, Lieder von Sängern wie Paula Carolina oder Bosse zu verbinden. Es gibt Breakdance, und der Bandoneon-Star Omar Massa tritt auf, aber bloß ein Lied lang.

Die Stringenz von Bad Ischl 2024 scheint man mit dieser Show ebenso wenig angestrebt zu haben wie die Poesie von Pilsen 2015, die Großspurigkeit von Essen 2010 oder die Verwegenheit von Linz 2009. Nach einer Stunde wippt Fritz Kalkbrenner zum Abschluss hinter seinem DJ-Pult herum, aber nur wenige der laut Veranstalter 20 000 Besucher tanzen, obwohl die Chemnitzer später in der Nacht beim Rave am Neumarkt zeigen, dass sie eigentlich Lust darauf haben.

Wobei die Wahrnehmung einer Europäischen Kulturhauptstadt und ihrer Eröffnung natürlich immer eine Frage der Perspektive ist: „Seien Sie froh, dass Sie nicht vor 250 Jahren nach Chemnitz gekommen sind“, rät eine Vortragende nachts in der Oper.

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