Novi Sad - Im fahlen Winterlicht umwogen die grauen Donaufluten die Pfeiler der Freiheitsbrücke im serbischen Novi Sad. Nicht weit entfernt türmen sich farbenfrohe Wollknäuel im Magazin des Ateliers 61 hinter dem dicken Gemäuer der Petrovaradin-Festung. Ein Essgerät ersetzt das Weberblatt: Mit Gabeln drücken die fingerfertigen Kunstweberinnen die zwischen die Kettenfäden geflochtene Teppichwolle fest. Nur von Künstlern geschaffene Originalentwürfe, „keine Kopien“ würden an den Webstühlen der behaglichen Werkstatt seit mehr als sechs Jahrzehnten zu prächtigen Wandteppichen verwoben, berichtet stolz Atelier-Direktor Zoran Bulatovic: „Unsere Kunstteppiche sind bereits auf allen Kontinenten und in den wichtigsten Museen der Welt ausgestellt worden.“
Demnächst können Liebhaber zeitgenössischer Textilkunst die Wandteppiche auch in ihrer Geburtsstadt bestaunen. Er liebe es, „mit Kunstformen zu spielen“, begründet Bulatovic, warum er für das Europäische Kulturhauptstadtjahr in Novi Sad Comic-Kunst zu Teppichen verarbeiten lässt. Für die Entwürfe hatte er ursprünglich auch ausländische Comic-Koryphäen eingeladen: „Doch dann hat Corona alles blockiert.“ Wie das von 2021 auf 2022 verschobene Kulturhauptstadtjahr verlaufen werde, sei wegen der Pandemie „kaum zu planen“: „Corona hat die Euphorie etwas gedämpft.“
„Ganz Europa hat bestätigt, dass wir ein Zentrum der Kultur sind“
Groß war 2016 noch die Begeisterung, als sich Serbiens zweitgrößte Stadt in der Endausscheidung gegen das montenegrinische Herceg Novi durchsetzte und zu Europas erster Kulturhauptstadt außerhalb der EU nominiert wurde. Die Herzen aller Bürger von Novi Sad seien „erfüllt“, jubilierte damals pathetisch Bürgermeister Milos Vucevic von der nationalpopulistischen Regierungspartei SNS: „Ganz Europa hat bestätigt, dass wir ein Zentrum der Kultur sind. Der Titel der Europäischen Kulturhauptstadt eröffnet eine neue, große Türe für die Entwicklung von Novi Sad – und des ganzen Landes.“
Tatsächlich scheint die einst von Maria Theresia gegründete 240 000-Einwohner-Stadt an der Schnittstelle zwischen Mittel- und Südosteuropa für den Prestigetitel wie geschaffen. Lastet auf Serbien und der nur 70 Kilometer entfernten Hauptstadt Belgrad noch stets das nationalistische Kriegstreiber-Image des blutigen Jahrzehnts der 90er Jahre, genießt Novi Sad, „Serbiens Athen“, den Ruf einer weltoffenen Vielvölkerstadt.
Im Gegensatz zu dem luxemburgischen Esch und dem litauischen Kaunas – den beiden anderen Kulturhauptstädten 2022 – steht die selbstbewusste Universitätsstadt zumindest in Sachen Kultur kaum mehr im Schatten der eigenen Hauptstadt. Grund dafür ist ein legendäres Festival: Seit 20 Jahren pilgern jährlich Zehntausende Rockfans aus ganz Europa zum Exit-Festival nach Novi Sad – dem größten und wichtigsten Musikspektakel auf dem Balkan.
Der Wirtschaft des Landes habe das Festival in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen Mehrwert von mehr als 200 Millionen Euro beschert, bis 2030 dürften weitere 200 Millionen Euro hinzukommen, rechnet deren Pressesprecherin Dijana Babic vor. Als „größte Organisation der Musikindustrie“ in der Region organisiere Exit mittlerweile neun Großfestivals in sieben Staaten. Auch wegen der 1000 Journalisten aus dem In- und Ausland, die sich alljährlich für Exit akkreditieren ließen, sei der PR-Wert des preisgekrönten Festivals für das Marketing der Stadt und des Landes „unschätzbar“: „Exit hat Novi Sad dem Planeten vorgestellt.“
Man wolle den Brückenschlag zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schaffen
Unablässig klingeln im Apolo-Zentrum am Freiheitsplatz die Telefone. Auch Nemanja Milenkovic, der eloquente Organisationschef des Europäischen Kulturjahrs, hat seine beruflichen Sporen einst beim Exit-Festival erworben. Die Angst, dass die Bewohner der neuen Kulturhauptstadt wegen der Pandemie auch im Jahr 2022 weitgehend unter sich bleiben könnten, plagt den 44-jährigen Marketing-Experten nach eigener Aussage keineswegs.
Schon 2019 habe „Lonely Planet“ die Stadt zu einer der drei Top-Reiseziele des Jahres erklärt und habe die Zahl der Übernachtungen „zweistellige Zuwachsraten“ aufgewiesen, so Milenkovic. Diese Entwicklung sei zwar „durch Corona unterbrochen“ worden, aber die Touristen würden „langsam zurückkehren“: „Wir haben Erfahrung, mit Einschränkungen zu arbeiten. Auch wenn wir natürlich hoffen, dass so viele Menschen wie möglich persönlich nach Novi Sad kommen können.“
Auch in Serbien schnellen die Infektionszahlen seit einiger Zeit wieder nach oben. Doch trotz Corona hält der frühere Vorsitzende der Exit-Stiftung den Zeitpunkt des Kulturhauptstadtjahrs für einen „guten Moment“. Mit „vier programmatischen Brücken“ und der Hilfe von 5000 Künstlern wolle Novi Sad 2022 den Brückenschlag zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit „universalen Botschaften“ wagen, sagt Milenkovic, der von „neuen Brücken für neue Leute, neue Räume und neue Prozesse“ spricht: „Nach dem turbulenten 20. Jahrhundert, in dem Kriege und Flüchtlinge die Struktur der Stadt veränderten, muss sie sich erneut fragen, was sie ist und wohin sie will.“
Krieg, Besatzung und Terror zerstörten das Zusammenleben
Ein kalter Wind streicht über die Donau. Die drei von der Nato im Kosovokrieg 1999 zerstörten Brücken sind längst wieder aufgebaut. Das Bronze-Mahnmal einer stilisierten Familie erinnert am Ufergestade gegenüber der Festung an das im Januar 1942 von ungarischen Truppen an mehr als 1200 Zivilisten begangene Massaker von Novi Sad: Eindrucksvoll und bedrückend hatte der in Novi Sad aufgewachsene Schriftsteller Aleksandar Tisma in seinem 1991 erschienenen Roman „Der Gebrauch des Menschen“ beschrieben, wie Krieg, Besatzung und Terror das Zusammenleben in der Vielvölkerstadt zerrütteten – und zerstörten.
Vom Holocaust über die Folgen von Flüchtlingsbewegungen und Migration, der Bewältigung der Kriegsvergangenheit bis hin zu Frauen in der Kunst, Multikulturalität und die Zukunft Europas reicht das sehr breit gefächerte Themenfeld des Programms. Doch nicht nur Coronawolken überschatten das an diesem Donnerstag, 13. Januar, offiziell eröffnete Hauptstadtjahr in Novi Sad. Ausgerechnet in der sonst so entspannten Brückenstadt tun sich vor dessen Auftakt Risse und Gräben auf.
Fehlende Fachkompetenz und ein oberflächliches Programm, das eher auf Effekt schiele als auf Nachhaltigkeit setze, werfen Kritiker aus der unabhängigen Kunstszene den Organisatoren vor. Milenkovic verweist hingegen auf die Umwandlung von leer stehenden Fabriken und Lagerhallen zu einem Netzwerk von acht „Kulturstationen“. So etwa das Svilera-Zentrum in der einstigen Seidenfabrik im zum „Kreativdistrikt“ erklärten „Chinesischen Viertel“. „Alles, was wir geschaffen haben, bleibt als dauerhaftes Erbe zurück“, sagt Milenkovic.
„Wir Roma werden dabei völlig übergangen“
Der Großteil der Bevölkerung „freue sich auf das Jahr“, versichert der Organisationschef. Es sei zwar „okay“, dass Novi Sad für das Europäische Kulturjahr „etwas renoviert“ worden sei, sagt hingegen der Lehrer Stevica Nikolic, Aktivist der Bewegung Opre Roma: „Aber ich habe das Gefühl, dass die Mehrheit der Leute dem Hauptstadtjahr völlig gleichgültig gegenübersteht. Wir Roma erst recht, denn wir werden dabei völlig übergangen.“ Obwohl das Svilera-Zentrum sich in unmittelbar Nachbarschaft zum Roma-Viertel Veliki Rit befinde, sei an dessen Programm „kein einziger Rom“ beteiligt worden, klagt Nikolic. Stattdessen sei das „Barcelona Gipsy balKan Orchestra“ verpflichtet worden: „Ich kenne die Band. Aber was haben Musiker aus Spanien mit Novi Sad zu tun?“ Dabei gebe es unter den örtlichen Roma-Musikern „viel Talent“. Wer Multikulturalität darstellen wolle, müsse daran „alle Minderheiten beteiligen“: „Aber wir Roma sind anscheinend nur als Publikum gefragt. Es scheint, als ob die Leute nicht wissen, über was für ein Potenzial ihre Stadt eigentlich verfügt.“
Auch als Folge von Kriegen, Vertreibungen und Migration ist heute in vielen westeuropäischen Städten eine größere Anzahl verschiedener Nationen zu Hause als in dem sich selbst gerne als multikulturell feiernden Novi Sad. Eine von Opre Roma im Sommer aufgestellte Plakatwand zur Erinnerung an die Roma-Opfer des Holocaust sei im August von Neonazis zerstört worden, berichtet Nikolic – und zuckt mit den Achseln: „In Belgrad und Nis wurden von uns ähnliche Plakate aufgehängt – und es passierte nichts.“
Die Donaustadt investiere kaum langfristig in visuelle Kunst
Aus Granatwerfern werden Blasinstrumente, aus Stahlhelmen die Klangkörper von Gitarren: Die Funken sprühen, wenn der Bildhauer Nikola Macura in seinem Atelier den von ihm gesammelten Kriegsschrott zu Instrumenten verschweißt. Er bemühe sich um einen spielerischen Umgang mit der „Zerstörung, von der wir umgeben sind“: „Waffen als Symbol der Zerstörung finden sich auf dem Balkan leider genug.“
Im Juli werde er das von ihm umfunktionierte Kriegsgerät von einem serbisch-österreichischen Orchester in Europas neuer Kulturhauptstadt und danach auch in Graz bespielen lassen, erzählt der an der Kunstakademie lehrende Professor. Er hoffe, dass sich Novi Sad als würdige Kulturhauptstadt erweisen werde. „Im Moment“ sei in der Stadt allerdings noch „keinerlei Euphorie“ zu verspüren.
Ein Teil der lokalen Künstler habe die Zusammenarbeit mit der Organisation des Kulturhauptstadtjahrs „aus verschiedenen, auch aus politischen Gründen“ abgelehnt, berichtet Macura. Solange er sein Projekt „Vom Krach zum Klang“ auf eine Weise verwirklichen könne, wie sie ihm vorschwebe, verweigere er sich selbst aber niemals einer Kooperation – „egal, was andere davon denken“: „Allzu große Erwartungen daran hege ich allerdings auch nicht. Das Hauptstadtjahr ist für mich eine Etappe, mehr nicht.“
Ein Problem für Kulturschaffende in Novi Sad sei die Nähe zu der „zu dominanten“ Hauptstadt; ein anderes, dass die Donaustadt sich zwar als „Stadt der Festivals und Veranstaltungen“ verstehe, aber in Wahrheit kaum langfristig in visuelle Kunst auch investiere: „Ob Musik- oder Filmfestivals – Mittel fließen nur für bestimmte Ereignisse, und dazwischen passiert nichts. Es fehlt einfach an Kontinuität.“
An der „sehr schwierigen“ Lage der Künstler in seinem Land werde sich auch durch die kulturellen Hauptstadtwürden von Novi Sad kaum etwas ändern, fürchtet Macura: „Egal, wer regiert: Das Verständnis für die Bedeutung aller Aspekte von Kunst und Kultur ist in Serbien gering.“