Ob in Leonberg, Ditzingen oder Stuttgart – das Festival „Unter Beobachtung“ der Kultur-Region wartet mit anregenden Kunstprojekten im öffentlichen Raum auf. Aber Vorsicht beim Versuch, sie selbst zu erkunden.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Nein, es ist kein schönes Gefühl. In Sekundenschnelle macht sich Unbehagen breit, würde man sich am liebsten abwenden, verstecken – und das nur, weil man von einer neugierigen Kamera überrascht wird. Eigentlich sollte man sich längst daran gewöhnt haben, dass man im öffentlichen Raumen beinahe auf Schritt und Tritt im Visier von Überwachungskameras ist. An die 3000 Kameras sind in Stuttgart allein in öffentlichen Verkehrsmitteln und an Haltestellen installiert. Hauseingänge und Firmengelände, Geschäfte und Boutiquen – einerlei, wo man sich aufhält, es bleibt nicht unbeobachtet. Selbst vom Stuttgarter Bahnhofsturm aus hat eine Kamera die Fußgängerzone fest im Blick.

 

Die Kultur-Region Stuttgart hat sich also für sein diesjähriges Festival ein Thema vorgenommen, das kaum aktueller sein könnte. „Unter Beobachtung. Kunst des Rückzugs“ nennt sich das große Kunstfestival, bei dem sich Künstlerinnen und Künstler in 21 Städten verschiedenen Aspekten der Beobachtung widmen oder sich in der Kunst des Rückzugs versuchen. Im Stadtpark von Leonberg gelingt der Rückzug nicht und bleibt neugierigen Passanten nur die Möglichkeit, sich flugs aus dem Staub zu machen. Denn der österreichische Künstler Bernd Oppl hat mitten auf der Wiese ein großes Zimmer aufgebaut mit einem Fenster ins Grüne. Wer es interessiert betritt, muss bald feststellen, dass er von einer Kamera observiert wird. Und schon stellt sich dieses typische Gefühl ein, dass hier eine Grenze überschritten wird. Ein schlichtes wie lehrreiches Experiment, bei dem Bernd Oppl das Publikum selbst zum Gegenstand der Betrachtung macht.

Die Gedanken sind immerhin noch frei und unbeobachtet

Aber wie kann man sich schützen in einer Welt, in der der Einzelne zunehmend gläsern wird? Gibt es überhaupt noch Rückzugsorte? Daniel Beerstechers Antwort ist klar: Letztlich sind nur noch die Gedanken frei und unkontrolliert und bietet nur noch die eigene Innenwelt ein verlässliches Refugium. Deshalb wird der Stuttgarter Performancekünstler in den kommenden zwei Wochen meditieren – und zwar an sechs Tagen die Woche jeweils sechs Stunden lang.

Im AKKU-Projektraum des Künstlerbunds Baden-Württemberg kann man Beerstecher dabei zuschauen, wie er die Innenschau praktiziert und dazu achtsam auf einer kleinen Bühne auf- und abläuft, bewusst einen Fuß vor den anderen setzt, ohne sich weiter um das zu scheren, was um ihn herum passiert. Unauffällig verfolgen auch hier Kameras jeden Schritt. Wer will, kann sich eines der Meditationskissen nehmen und erproben, ob das Innere da tatsächlich Zuflucht gewährt.

Eine Künstlerin will in ein Buswartehäuschen einziehen

Der künstlerische Leiter Gottfried Hattinger hat ein abwechslungsreiches Programm konzipiert. So wird Dries Depoorter in Kornwestheim an mehreren Stellen „Surveillance Speaker“ aufbauen, über die Passanten erzählt bekommen, was die Kamera gerade aufnimmt. In Ludwigsburg kann man mit dem Theaterkollektiv Rimini Protokoll den Stadtraum erkunden – und wird von einer unsichtbaren Stimme per Kopfhörer geleitet – oder doch eher observiert?

Die künstlerischen Mittel sind vielfältig. Esslingen zeigt in der Villa Merkel eine klassische Ausstellung zum Thema, Dirk Schlichting hat dagegen in Backnang auf einer großen Brache eine Art Bunker gebaut inmitten von einem endlosen Folienmeer. In Gerlingen könnte es Gerede geben, denn Barbara Ungepflegt will am heutigen Montag ins Buswartehäuschen auf dem Gerlinger Rathausplatz einziehen und dort in den kommenden Wochen unter den Blicken der Öffentlichkeit wohnen. Wer sich gern selbst darstellt, sollte dagegen nach Winnenden fahren und sich im „Narziss-Studio“ von Götz Bury in angeberischem Ambiente fotografieren lassen.

Die Projekte sind weit verstreut und lassen sich nicht immer auf Anhieb finden

Die Festivals der Kultur-Region wollen ein politisches Signal senden und zeigen, dass die Mitglieder des Verbunds in Sachen Kultur an einem Strang ziehen. Nur schade, dass man bei einem so aufwendigen Großprojekt so wenig das Publikum im Blick hat. Denn es empfiehlt sich nicht, die in der Region weit verstreuten Werke auf eigene Faust zu erkunden. Vernissagen und Laufzeiten sind nicht aufeinander abgestimmt. Im Begleitheft fehlen oft die genauen Adressen, so dass man die Werke im öffentlichen Raum nicht immer ohne Weiteres findet. Wer tatsächlich über den eigenen Tellerrand zu den Arbeiten in Nachbargemeinden schauen will, sollte lieber eine der geführten Touren buchen.

In Ditzingen gibt es denn auch lange Gesichter, weil „Die Insel“ auf dem Ditzinger Marktplatz zwar offiziell geöffnet, aber trotzdem geschlossen ist. Eigentlich kann man über eine Leiter Christian Hasuchas Aussichtsterrasse erklimmen, auf der frischer Rasen wächst. Der Berliner Künstler hat mitten auf dem Marktplatz ein Stück Sommerfrische in den Herbst herübergerettet. Bei schönem Wetter kann man sich auf dem Rasen niederlassen und beobachten, was der Ditzinger Alltag zu bieten hat.

Die Bibel ist eines der Bücher, die kaum einer gelesen hat, aber jeder zu kennen meint

Immerhin, die Bibliothek ungelesener Bücher von Julius Deutschbauer kann man auch im Internet kennenlernen. Der österreichische Autor fahndet nach Büchern, über die gern geredet wird, obwohl sie kaum einer gelesen hat. In der Stuttgarter Stadtbibliothek hat er bereits mehrere Hundert Titel zusammengetragen. Wem die Warteschlangen vor der Bibliothek zu lang sind, der kann auch im Internet erfahren, welche Bücher besonders beliebt und ungelesen sind: „Der Mann ohne Eigenschaften“, „Ulysses“ und auf Platz drei die Bibel.