Der Verdi-Chef findet mit seinen Thesen zur Verteilungs­ungerechtigkeit Gehör wie nie zuvor. Der wachsende Unmut in der Bevölkerung macht es möglich.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske hat in seiner elfjährigen Amtszeit schon viele Tarifrunden bestritten, doch dies ist sein bisher wichtigstes Gefecht. Kein Konflikt hat ihm eine derartig große Chance geboten, die Massen von seinen Thesen zur Verteilungsungerechtigkeit in Deutschland zu überzeugen. Die zwiespältige Einkommensentwicklung und der wachsende Unmut in der Bevölkerung machen es möglich.

 

Sätze wie „Wir müssen aufhören damit, bei der Besteuerung großer Erbschaften und Vermögen eine Steueroase zu sein“, hat Bsirske zwar schon oft gesagt – aber nie zuvor hat er so viele Anhänger für seine Forderung gefunden, dass nun von oben nach unten „umverteilt“ werden müsse. Am Montag bejubelten ihn dafür Verdi zufolge bis zu 12 500 Kundgebungsteilnehmer vor dem Stuttgarter Rathaus.

Ein verlorenes Jahrzehnt für den öffentlichen Dienst

Die Daten der EU-Kommission würden es belegen: „Wir haben es mit einer Krise des Steuerstaates zu tun“, wettert der Gewerkschafter. Der Staat leiste sich den Luxus, seine Vermögensbesitzer zu privilegieren und das fehlende Geld bei den Vermögenden auszuleihen. Zugleich würden die Aufgaben reduziert, sodass die Konsolidierung auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werde. Die Folge sei ein verlorenes Jahrzehnt für den öffentlichen Dienst, in dem die Reallöhne gegenüber der Privatwirtschaft um neun Prozent zurückgefallen seien. Schluss damit, verlangt Bsirske.

Reden des Vorsitzenden gleichen in Teilen zuweilen volkswirtschaftlichen Referaten. Bsirske zitiert gerne Statistiken sowie Sachverständige und nennt die unterschiedlichsten Zahlen. Doch immer häufiger findet er unabhängige Belege für die Richtigkeit seiner Thesen. Diese Gelegenheit will er nutzen, möglichst mit dem höchsten Tarifabschluss sei der Verdi-Fusion 2001.

Nächste Verhandlungen am Mittwoch und Donnerstag

So liegt ein Streik in der Luft – möglicherweise gar ein branchenübergreifender. Davon konnte Bsirske vor Jahren allenfalls träumen. Doch soweit ist es noch nicht. Falls die nächsten Verhandlungen am Mittwoch und Donnerstag keinen Erfolg bringen, dürften die Arbeitgeber nach den bisherigen Signalen die Schlichtung anrufen. Stimmberechtigter Schlichter wäre der frühere sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt als Mann der Arbeitgeber; an seiner Seite stünde Hannovers früherer OB Herbert Schmalstieg. Das Duo hatte bereits die beiden jüngsten Vermittlungen übernommen.

Folgendes Szenario ist denkbar: Sollten die Schlichter erst nach Ostern loslegen, würde Mitte April eine Schlichtungsempfehlung vorliegen, über die dann erneut verhandelt werden müsste. Wird sie von einer Seite abgelehnt, müsste die Urabstimmung in der zweiten Aprilhälfte stattfinden und das Ergebnis Ende des Monats bekannt gegeben werden. Am Tag der Arbeit, dem 1. Mai, hätte Bsirske dann erst recht einen ganz großen Auftritt.