Das Hegel-Zitat von Joseph Kosuth ziert bereits seit 1993 die Fassade des Stuttgarter Hauptbahnhofes. Erst jetzt enthüllt sich dessen Hintersinn.

Stuttgart - Viel steht nicht mehr vom Stuttgarter Bahnhof, doch immer noch genug, um allabendlich auf der Hauptfront eine Inschrift erstrahlen zu lassen: „. . . daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist“. Auch der Name des Autors, der diese verwunderliche Behauptung gewagt hatte, ist hinzugefügt: „G. W. F. Hegel“, in Festreden gerne „der berühmteste Sohn der Stadt“ genannt. Das Zitat findet sich in Hegels Hauptwerk, der 1807 erschienenen „Phänomenologie des Geistes“, auf den ersten Seiten der „Einleitung“. Sie möchte dem Einwand zuvorkommen, der Anspruch der spekulativen Philosophie, die „absolute Wahrheit“ zu erkennen, könne auf einem „Irrtum“ beruhen. Hegel versucht, die Skeptiker zu widerlegen – und vielleicht sich selbst zu beruhigen –, indem er kühn „diese Furcht zu irren“ selbst für einen „Irrtum“ erklärt.

 

Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich an einem zweihundert Jahre zurückliegenden Streit über die Möglichkeit philosophischer Erkenntnis ausgerechnet die Deutsche Bahn beteiligen und ihre Parteinahme auf eine derart spektakuläre Weise kundtun wollte. Gegen eine harmlose Deutung der Aktion spricht der Ort, an dem Hegels Devise angebracht wurde: gerade an dem Bahnhof, dessen Teilabriss geplant war und heute verwirklicht ist. Für den praktischen, aktuellen Zweck der scheinbar allgemeingültigen (und doch so anfechtbaren) Denkregel spricht auch der Zeitpunkt, zu dem an den international bekannten Künstler Joseph Kosuth, damals Professor an der Stuttgarter Kunstakademie, der Auftrag erging, Hegels Diktum in Leuchtschrift hoch oben an der Bahnhofsfassade zu verkünden: 1993. Im selben Jahr begann die Arbeit an der Machbarkeitsstudie von „Stuttgart 21“. 1995 wurde sie vorgelegt.

Früher spottete man über „Bedenkenträger“

Hegel hatte über die „Bedenklichkeiten“ gespottet, die sich seinem Programm, die absolute Wahrheit des Geistes zu erfassen, in den Weg stellten. Vor zwanzig Jahren, als der ökonomische und technologische Optimismus im wiedervereinigten Deutschland triumphierte, spottete man über „Bedenkenträger“, die den großen Projekten der Planer und Macher misstrauten und die „Furcht zu irren“ nicht unterdrückten. Solchen Bedenken und dem denkbaren Widerstand, der sich bei den Bürgern der Stadt gegen die „absolute Wahrheit“ des Tiefbahnhofs hätte regen können, sollte die strahlende Gewissheit in einem verblüffenden Satz, oder vielmehr Nebensatz, autorisiert durch einen der größten Denker aus dem Land der Dichter und Denker, heimleuchten.

So wurde Hegel, zu dessen Lebzeiten es noch gar keine Eisenbahn in Deutschland gab, als Vordenker, Mitstreiter und Propagandist einer neuen Eisenbahnlinie in Dienst genommen. Den Politikern, Ingenieuren und Unternehmern kamen der berühmte Philosoph Hegel und der berühmte Künstler Kosuth gelegen, um dem prekären Vorhaben den Glanz bedeutsamer Worte und fragloser Sicherheit zu verschaffen. Praktische Bedenkenlosigkeit erhielt durch den einschüchternden Namen eines Philosophen höhere Weihen und sollte so die Einwohner der Stadt auf die Seite des Projekts ziehen, ehe ihnen dämmerte, worum es ging und welche Folgen es haben würde. Die Leuchtreklame diente dazu, alle, die sie lasen, hinters Licht zu führen; ihnen sollte kein Licht aufgehen.

Heute, zwanzig Jahre danach, bekunden selbst amtliche Befürworter des Weitermachens, sie würden das Projekt „Stuttgart 21“ nicht mehr befürworten, wenn sie noch einmal am Anfang stünden und noch einmal das Risiko eines Irrtums erwägen dürften. Vermutlich spürten sie damals selbst die „Furcht zu irren“ und setzten sich mit Hegels forschem Paradox über ihre Zweifel hinweg. Wenn die Kosten von Stuttgart 21 dadurch nicht noch weiter steigen würden, machte der jetzige Stand der Erkenntnis eine Ergänzung des missbrauchten und irreführenden Zitats notwendig: „. . . daß diese Furcht vor der Furcht zu irren schon der Irrtum selbst war“.