In Marseille klafft ein gesellschaftlicher Abgrund, der die Stadt an den Rand eines Bürgerkriegs bringen könnte. Jetzt soll die Kunst die Kulturhauptstadt Europas retten. Doch nur wenige wagen die Synthese von Kunst und Killer.

Kallisté ist keine dieser Wellblechsiedlungen, die am Stadtrand wuchern wie Pilzbefall. Hier im Norden von Marseille greift die Misere nicht horizontal aus, sondern vertikal. Wohnsilos ragen in den Himmel. So groß sind sie, dass es eines ausgedehnten Fußmarsches bedarf, um auch nur einen zu umrunden. Block 32 hat knapp ein Dutzend Eingänge und Treppenhäuser. Ein über dem Türrahmen prangender Buchstabe hebt sie voneinander ab. Treppenhaus 32 H liegt im Dunkeln. Es riecht nach Urin. Fliegen schwirren umher. Wo früher eine Fahrstuhltür war, gähnt ein Loch in der Mauer. Jemand hat eine Metallplatte davorgeschoben. Sie soll Kinder vor dem Sturz in den Aufzugsschacht bewahren.

 

Ein Mann kommt herein. Er sagt kein Wort, macht kehrt, geht wieder nach draußen. Fremde irritieren in Kallisté. Es gibt sie kaum. Bewaffnete Drogendealer kontrollieren die einzige Zufahrtsstraße. Von ungebetenem Besuch halten sie wenig.

Die einende Kraft Marseilles schwindet

Jahrhundertelang hat diese Hafenstadt integriert, wer immer hier Zuflucht suchte. Während des Ersten Weltkriegs kamen vom Völkermord traumatisierte Armenier. Es folgten Italiener, die der Armut und dem Faschismus Mussolinis entkommen wollten, Spanier die vor den Schergen Francos flohen. In den sechziger Jahren strömten Algerier nach Marseille, deren Land 1962 unabhängig geworden war. Zwanzig Jahre später drängten Einwanderer aus den vor Ostafrika liegenden Komoren in die Stadt, suchten Arbeit und Auskommen. Und alle kamen sie mit leeren Händen, das Herz voller Hoffnung. Doch die einende Kraft schwindet. In der Kulturhauptstadt Europas, die sich in prachtvollen Museen den Zivilisationen des Mittelmeeres zuwendet, dem Brückenschlag nach Afrika, ist Abgrenzung, ja Abschottung angesagt.