„Viva Arte Viva“: Die 57. Biennale von Venedig feiert die Gegenwartskunst als Ausdruck des Humanismus

Venedig - Wohin geht die Kunst? Sie überquert Abgründe. Eine Videoarbeit von Taus Makhacheva, einer 34-jährigen Künstlerin aus Dagestan, bringt diese Biennale auf den Punkt. Sie zeigt, wie ein Hochseilartist über einen Abgrund zwischen zwei Gebirgskuppen balanciert. Der Seiltänzer bringt Gemälde von einem offenen Lager auf der einen Kuppe in eine geschlossene Struktur – ein Museumsdepot? – auf der anderen. Dafür hängt der Artist jeweils ein Bild an die äußeren Enden seiner Balancierstange. Spielerisch und mit höchstem Risiko zugleich transportiert er im Video „Tightrope“ die Kunst von einer zur anderen Seite.

 

„Viva Arte Viva“, ein Vivat der lebendigen Kunst, lautet der Titel der 57. internationalen Kunstbiennale von Venedig, die an diesem Samstag eröffnet wird. Die 48-jährige Pariserin Christine Macel hat die Hauptausstellung eingerichtet. Nachdem vorangegangene Biennalen eindeutig thematisch bestimmt waren – zur politischen Kunst etwa die von Okwui Enwezor 2015 – gibt es jetzt kein bestimmtes Motto. Lebendige Kunst gilt der Kuratorin als Ausdruck eines neuen Humanismus. Mit Nachdenklichkeit und Kreativität, mit individuellen Ausdrucksformen und dem Ruf nach Freiheit widersetzt sich die Kunst einer Welt voller Konflikte und populistischer Wallungen. Dafür hat Macel vorwiegend junge, oft unbekannte Künstlerinnen und Künstler eingeladen, sie greift aber auch auf Arbeiten von älteren, etablierten zurück. Von 120 Teilnehmern sind 103 zum ersten Mal in Venedig dabei. So „neu“ war eine Biennale noch nie. Szene-Vips wie Olafur Eliasson (mit einem eher langweiligen Workshop zum Bau von Öko-Lampen) bleiben in der Minderheit.

Das ist ein Spiel mit Entdeckungen und Wiederentdeckungen. Wie die Bilder von Kiki Smith (USA), in denen sich eine zerbrechliche und zugleich energiegeladene Welt des Weiblichen spiegelt. Aus Deutschland stammen die Arbeiten der 1934 geborenen Documenta-6-Teilnehmerin Irma Blank, von Michael Beutler (Jahrgang 1976), Andy Hope (1963), Fiete Stolte (1979) und Franz Erhard Walther (1939) zu sehen. Darüber hinaus lebt und arbeitet ein gutes Dutzend der von Macel eingeladenen internationalen Künstler in der Bundesrepublik, zumeist in Berlin.

Andächtig stehen wir vor einem Bett

Die Kuratorin hat ihre Reise durch die internationale Künstlerwelt in neun Abteilungen gegliedert, die sie „Trans-Pavillons“ nennt. Das reicht vom „Pavillon der Künstler und der Bücher“ bis zum „Pavillon der Zeit und der Unendlichkeit“. In diesen Ensembles tauchen etwa Themen der Öko-Kunst auf, es geht um soziale Beziehungen oder um die in die Gegenwart wirkenden Traditionen. Ein „dionysisch“ genannter Raum feiert den Körper der Frau, wie ihn vor allem Künstlerinnen aus Kuba oder Frankreich, den USA, Irland – eindrucksvoll: die 37jährige Mariechen Danz – oder der Schweiz mit der 1933 gestorbenen Heidi Bucher sehen.

Die Biennale-Chefin legt dabei Wert auf den kreativen Entstehungsprozess und lässt ganze Werkstätten einrichten. Oder sie betont die Dialektik von „otium et negotium“, also der für eine Schöpfungsphase notwendigen Ruhe und dem künstlerischen Arbeitsprozess. So stehen wir andächtig vor dem Bett des schlafenden Künstlers, einer Arbeit aus Kazakistan. Eine von der Kuratorin eingerichtete „Tavola aperta“ lädt in den kommenden Wochen jeweils eine kleine Zahl von Glücklichen ein, zusammen mit einem Künstler zu Tisch zu sitzen, zu essen und zu plaudern.

Der Überblick durch die große bunte Welt der Gegenwartskunst, den Christine Macel und ihre Mitarbeiter der Biennale in vielen Monaten der Vorbereitung aufgebaut haben, setzt sich ungeordnet in den 86 Länderbeiträgen und vielen Nebenveranstaltungen fort. Im französischen Pavillon erlebt man musikalische Installationen in einem Raum nach dem Vorbild von Schwitters’ Merzbau. Mit grobem Leinen bespannte Skulpturen wachsen riesig bis unter das Dach der Briten. Collagen, abstrakte Arbeiten und viele Objekte, die vom sozialen Alltag aus Los Angeles erzählen, bestimmen den Auftritt im Pavillon der USA. Überraschend kritisch geben sich die Russen mit Installationen zur Beherrschung der Welt durch diktatorische Gewalt. Schwarz und Weiß geben sich in Südafrika die Hand. Zum ersten Mal dabei ist Nigeria mit Malarbeiten, Filmen, Installationen und einer Tanzperformance. Und die Italiener können endlich wieder einmal mit einem Auftritt überzeugen, bei dem es unter anderen mit einer „Imitatio Christi“ darum geht, Ikonen des verstorbenen Christus herzustellen, dessen Körper jedoch einem Verwesungsprozess unterworfen wird, je öfter man versucht, ihn zu reproduzieren. In kleinen Kreisen diskutiert man, warum der deutsche Kulturmanager Martin Roth den Auftritt des autoritär regierten Aserbaidschan kuratiert.

Damien Hirst dreht am ganz großen Rad

Wer glaubt, dass die Kunst damit in Venedig ein Ende hat, kennt die Lagunenstadt nicht. Kaum ein Palazzo, in dem nicht irgendeine Ausstellung gezeigt, irgendein Auftritt zelebriert wird, von öffentlichen Einrichtungen wie der Ca’ Pesaro bis zur Stiftung der Peggy Guggenheim. Mit ganz großer Geste treten etwa der Palazzo Grassi und die Punta della Dogana, Einrichtungen des französischen Multimilliardärs François Pinault, auf. Hier zelebriert der Brite Damien Hirst ein Schaustück, an dem er angeblich zehn Jahre lang gearbeitet hat. Er erfindet sich die Saga von der Entdeckung eines antiken römischen Schiffwracks und einer Ladung voller Kunst auf dem Meeresboden. In „Treasures from the Wreck of the Unbelievable“ schafft er eine Welt voller Statuen und Büsten aus der Geschichte der Antike bis hin zu ironischen Brechungen mit Donald-Duck-Figuren.

Diese pompöse Ausstellung, die sich ganz am Markt und maximaler medialer Wirkung orientiert, unterstreicht durch ihre Gegensätzlichkeit den vollkommen anderen Ansatz der Biennalen mit ihrer experimentellen Suche nach dem Alternativen, dem Unangepassten und dem Unbequemen in der Kunst der Gegenwart.

Bis 26. November, Öffnungszeiten Giardini und Arsenale Di–So 10–18 Uhr.