Der Mensch wird nicht nur vom Verstand und von Trieben dirigiert, immer mehr auch von KI, von Künstlicher Intelligenz. Zwei Kunstereignisse in Stuttgart befassen sich mit Intimität und dem Wandel des Denkens. Unser Kolumnist begibt sich auf Spurensuche.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

 

Für Sebastian Weingarten sind die Bilder aus der schwulen Untergrundszene im New York der 1980er ein Déjà-vu, das alte Ängste hervorruft. Der Intendant des Renitenztheaters lebte zu jener Zeit im Big Apple, als ein sensibler junger Künstler Szenen aus dunklen Sphären von Saunen, Pornokinos und Bars unermüdlich gemalt hat, um die Sehnsüchte und Einsamkeit homosexueller Männer, also auch sich selbst, besser zu verstehen. Patrick Angus, so der Name des 1992 bereits mit 38 Jahren an Aids verstorbenen US-Amerikaners, ahnte nicht, dass eines Tages ein Werk von ihm in einer Stuttgarter Galerie für 86 000 Euro angeboten wird. Weingarten gehen die Bilder sehr nah. „Damals sind in New York Gays wie Fliegen gestorben“, sagt er bedrückt, „vielleicht war mein Glück, dass ich einen festen Freund hatte.“

Mit einer Gruppe von queeren Stuttgartern schaut sich der bald in den Ruhestand scheidende Renitenz-Chef die hochgelobte Gruppenausstellung „Intimacy“ in der Galerie Thomas Fuchs an der Reinsburgstraße im Stuttgarter Westen an – und kann allein an den Bildern sehen, wie sich das Leben einer einst diskriminierten Bevölkerungsgruppe verbessert hat. „Die queere Präsentation inspiriert mich“, sagt der deutlich jüngere LGBTQ-Aktivist Claudius Desanti vom Instagram-Channel Sissy That Talk, „sie sollte heute selbstverständlich sein.“ Doch Akzeptanz sei nicht in allen gesellschaftlichen Gruppen angekommen und noch nicht in allen Ländern. Dass männliche Nacktheit und schwule Sexualität „enttabuisiert“ werde, findet er gut und hofft, dass sich Kunst verstärkt auch mit der Transthematik befasst.

„Erotischer ist, wenn man nicht alles zeigt“

„Sichtbarkeit bleibt weiterhin wichtig“, findet der Stuttgarter CSD-Sprecher Detlef Raasch. Die Zunahme von Gewaltdelikten und Hasskommentaren zeige, dass man noch lang nicht am Ziel angekommen sei.

Nur wenige Ausstellungen schaffen es auf die Titelseiten beider Stuttgarter Tageszeitungen. Warum dies „Intimacy“ gelungen ist, verstehen die Gäste gut. Die Kraft der Farben begeistert sie. Die einen rühmen die Melancholie der Werke oder die Verschmelzung von Natur und Körpern. Intimität wird meist sachte dargestellt, als normal und selbstverständlich, nicht als anstößig. Andere finden, die Galeristen hätten die Sexszenen von Bartosz Kolata in den Räumen ihrer beiden Standorte aufhängen können. Die queere Gruppe darf sie am Rechner sehen. Die pornografischen Werke des polnischen Künstlers wurden aber gar nicht für „Intimacy“ geschaffen und blieben daher im Lager.

„Sex gehört zum Leben“, sagt CSD-Sprecher Detlef Raasch, „deshalb sollte man diese Werke auch zeigen.“ Prompt erntet er Widerspruch von anderen queeren Besuchern. „Erotischer ist, wenn man nicht alles zeigt“, meint einer. Explizite Sexszenen wolle er nicht aufhängen daheim – nicht nur, weil er sie abhängen müsse, wenn Mama kommt.

Von Kapitalanlagen reden die Galeristen nicht

Werke von Angus sind wie etliche Kunstwerke generell zu Kapitalanlagen geworden. Dies ist bei Thomas Fuchs und seinem Partner Andreas Pucher an diesem Abend kein Thema. Rendite ist nicht der Hauptzweck von Kunst. Kunst soll Gefühle ausdrücken oder provozieren. Lebhaft führen die beiden durch ihre Ausstellung. Über einen Film, der Quentin Crisp gewidmet ist, dem von Sting besungenen „Englishman in New York“, haben sie Angus entdeckt. In einer Szene dieses Films sieht man dessen Motive von Schwulenclubs. Die Neugierde der Galeristen war geweckt. Sie beschlossen, die Spur des unbekannten Künstlers weiterzuverfolgen.

Es gelang ihnen ein Coup. Die Wiederentdeckung des früh verstorbenen US-Amerikaners führte 2017 zu einer Ausstellung im Stuttgarter Kunstmuseum – und zu einem steigenden Marktwert seiner Bilder.

„Intimacy“ sorgt für einen Besucherrekord in der Galerie Fuchs

Weitere queere Künstler haben Fuchs und Pucher seitdem entdeckt und zeigen nun die Bedürfnisse und Sehnsüchte von mehreren Generationen in künstlerisch hochwertiger Form. Das Interesse an „Intimacy“ (endet am 11. Februar) ist riesengroß. Keine andere Ausstellung in der über zehnjährigen Geschichte der Galerie Fuchs hat für derart hohe Besucherzahlen gesorgt. Bei den bunten Werken fällt eine Farbe auf: Rot. An vielen Bildern hängt der rote Punkt, weil verkauft.

Die queeren Gäste sind begeistert. „Pride“ steht auf dem T-Shirt eines CSD-Aktivisten, der beim Rundgang dabei ist. Pride heißt stolz. Stolz ist zu spüren, dass die Künstler das eigene Lebensgefühl so gut treffen. Intimität als Quelle des Glücks. Allein die Liebe ist es, die zählt! Ganz egal, wer wen liebt.

Im Kunstmuseum eröffnet die Ausstellung „SHIFT“

Mischt sich in private Intimitäten bald die Künstliche Intelligenz (KI) ein, womöglich sogar künstlerisch? 100 Millionen Menschen greifen im Monat auf den umstrittenen Text-Roboter ChatGPT zu. Statt für jeden Zweck programmiert zu werden, kann eine KI eigenständig Antworten finden und Probleme lösen. Das Kunstmuseum befasst sich in der am Freitagabend eröffneten Ausstellung „SHIFT. KI und eine zukünftige Gemeinschaft“ (Shift bedeutet verschieben oder verlagern) mit dem Wandel des Denkens und schafft neben „Intimacy“ ein weiteres Highlight für Stuttgarter Kunstfans.

Zärtlichkeiten sind zu schön, um sie Robotern zu überlassen. Dies klingt banal. Doch angesichts des unglaublichen Wachstums von KI ist nichts mehr selbstverständlich.

Ich habe mich bei ChatGPT erkundigt, was ich in einen Liebesbrief schreiben sollte. Die Antwort: „(Name), ich kann nicht aufhören, an dich zu denken. Seit ich dich kenne, hat sich mein Herz verändert. Ich habe nie geglaubt, dass ich jemanden so sehr lieben könnte wie dich. Jeder Tag an deiner Seite ist ein Geschenk für mich. Ich möchte jeden Augenblick mit dir teilen und jede Herausforderung, die das Leben stellt, mit dir meistern.“

Also, liebe Leserinnen und Leser, sollte Ihnen jemand so schöne Zeilen schreiben, wissen Sie, wer oder was Sie liebt – die KI!