Matthias Dolderer ist ein Star der Kunstfliegerszene. An Ostern startet der Oberschwabe als Titelverteidiger beim zweiten WM-Lauf des Red Bull Air Race in San Diego. Eine Begegnung auf dem elterlichen Flugplatz.

Tannheim - Im Leben mancher Menschen gibt es keine Umwege. Matthias Dolderer, Jahrgang 1970, ist solch ein Mensch. Einer, der als Kind den Traum aller Kinder träumte. Fliegen. Der früh schon machte, wovon er träumte. Fliegen. Der noch immer macht, was er immer wollte. Fliegen. Mit fünf Jahren saß Matthias Dolderer das erste Mal neben seinem Vater im Flugzeug – auf dem familieneigenen Flugplatz in Tannheim nahe Biberach. Jetzt, mit 46, ist er als erster Deutscher Weltmeister des Red Bull Air Race, der Formel 1 der Lüfte.

 

In der Wettbewerbsserie regiert der Wahnwitz. Es werden g-Kräfte von zwölf erreicht, das bedeutet: Das Zwölffache des Körpergewichts wirkt auf den Mensch ein, das Gewicht eines Kleinwagens, wenn die Piloten mit dem Steuerknüppel ihre Flugbahn in Sekundenbruchteilen nach oben ziehen oder nach oben und gleichzeitig zur Seite. Dann zerrt und reißt es an jeder Sehne und jedem Muskel. Um drei Zentimeter wird die Wirbelsäule bei den Manövern zusammengestaucht und wieder auseinandergezogen. Und alle Innereien, von der Milz bis zum Magen, werden beansprucht wie ein Bungeeseil.

„Dass man dafür ein wenig trainiert ist und einen stabilen Magen hat, wäre schon gut“, sagt Matthias Dolderer mit schwäbischer Klangfarbe. Er sitzt im angejahrten Restaurant des Flugplatzes einen Kilometer außerhalb von Tannheim, vor sich ein Glas Johannissaftschorle. Ein Bild von einem Piloten, 1,83 Meter groß, enge Strickjacke, große Fliegeruhr am Handgelenk, grüne Augen, sehnig, Mehrtagebart, scharf geschnittenes Gesicht, markantes Kinn. Ruhige, beruhigende Ausstrahlung. Keinerlei Hektik in Mimik und Bewegungen. Alles im Griff. Ein bisschen „Top Gun“ im beschaulichen Tannheim.

Ein Leben über den Wolken

Draußen ist es grau. Krähen auf dem schmalen Asphaltband der Rollbahn. Ein Hangar im Nebel, darin Dolderers Rennmaschine – das Weltmeisterflugzeug. Zivko Edge 540, Propellerantrieb, 420 000 Euro teuer, 531 Kilogramm leicht, Länge 6,27 Meter, Spannweite 7,42 Meter, Reisegeschwindigkeit 313 Kilometer pro Stunde („Im Reisemodus bin ich nur, wenn ich einen Gast im Cockpit habe“). Voll symmetrisches Profil. Das ist wichtig. Voll symmetrisch bedeutet, dass die Maschine so konstruiert ist, dass sie auf dem Rücken, also kopfüber, genauso schnell fliegt wie im normalen Flug. Dolderer ist viel auf dem Rücken unterwegs.

Achttausend Flugstunden hat er absolviert seit seinem ersten Segelflug im Alter von 13 Jahren bis heute. Er verbrachte zusammengerechnet fast ein ganzes Jahr im Cockpit von über hundert verschiedenen Fluggeräten – Kunstflieger aller Art, Segelflieger, Hubschrauber, aber auch Passagierflugzeuge. Dolderer absolvierte mehr als 23 000 Starts und Landungen. Ein Leben über den Wolken. Wobei das in der Kunstfliegerei nicht wirklich zutrifft. Noch viel weniger beim Air Race. Wo man mit Tempo 400 hauchdünn über dem Boden durch einen Parcours aus 24 Meter hohen Pylonen zu fliegen hat. „Das ist ein bisschen so, als wenn man versucht, mit Tempo 400 ein Auto in eine Garage zu parken“, sagt Dolderer. Also ziemlich extrem.

Deswegen auch ist die Auslese der Teilnehmer beim Air Race sehr selektiv. Von den sowieso nur wenigen Kunstflugpiloten auf der Welt, ein paar Tausend nur, sind hier die vierzehn besten versammelt. Dekoriert mit unzähligen Erfolgen bei Flugwettkämpfen der Fédération Aéronautique Internationale, des internationalen Luftsportverbands, ausgestattet mit stählerner Gesundheit. Die Piloten fliegen an jährlich acht Rennwochenenden um die Weltmeisterkrone. Die Wettkampforte liegen rund um den Globus verteilt.

150 Tage im Jahr auf Tour

Mitte Februar, beim Auftakt der diesjährigen WM in Abu Dhabi hat Dolderer das Podium verpasst: Platz vier ist für den Titelverteidiger enttäuschend. Doch Dolderer wäre nicht Dolderer, wenn er nicht sagen würde, dass er „zuversichtlich nach vorne schaut“. An Ostern steht der zweite Lauf im kalifornischen San Diego auf dem Programm. Es folgen Chiba (Japan), Budapest (Ungarn), Kazan (Russland), Porto (Portugal), der Lausitzring (bei Cottbus) sowie das Finale in Indianapolis (USA).

Dolderer, der 2009 ins erlesene Starterfeld des Air Race stieß, verbringt seitdem fast 150 Tage im Jahr damit, zu den Rennen zu gelangen und sich auf sie vorzubereiten. Jedes Rennwochenende sieht ähnlich aus wie eines der Formel 1: Training, Qualifikation für das Rennen, das Rennen selbst. Verteilt auf drei Tage. Der Renntag besteht aus drei Durchgängen. Im ersten nehmen noch alle 14 Piloten teil, im zweiten nur noch acht. Übersteht man auch den, kommt man ins Final Four, in dem die vier Besten den Sieg unter sich ausmachen. Es geht die schnellste Zeit und einen sauber durchflogenen Kurs an Pylonen vorbei, 25 Meter hohen aufblasbaren Riesenkegeln. Der Kurs ist etwa sechs Kilometer lang.

Das ganze Jahr, die ganze Saison, die 150 Tage, die Dolderer unterwegs ist zu den Rennen, zumeist in der Businessclass eines Linienflugzeuges, die Tage des Akklimatisierens bei den Veranstaltungen in Übersee, das alles verdichtet sich am Ende zu maximal drei Flügen von je einer Minute pro Veranstaltung. Zu insgesamt 24 Minuten im ganzen Jahr, in denen es drauf ankommt. „Das ist schon krass“, sagt Dolderer, „das man sich für das bisschen so aufreibt das ganze Jahr.“ Andererseits aber mache es das auch so reizvoll. „Weil diese wenigen Momente dann so unfassbar intensiv sind“, sagt er. „Man kann das jemandem schwer beschreiben, der da nicht im Flugzeug sitzt. Es ist mehr als geil. Da knallt das Adrenalin in jede Pore.“

Bodenständiger Familienvater

Im normalen Leben sei er ja nicht so der Vollgastyp. Ziemlich geerdet eher, kein Punkt in Flensburg, kein Mann der großen Worte. Keiner, der ständig auf Partys unterwegs ist und verwegene Pilotenanekdoten erzählt. Die wenige Freizeit verbringt mit seiner Lebensgefährtin und der zwölfjährigen Tochter in seinem Haus in Hörbranz am österreichischen Teil des Bodensees.

Wenn aber der Morgen des Renntages kommt, ist das alles weit weg. Nach dem Aufstehen zählt er nur noch die endlosen Stunden und dann die Minuten, bis es schließlich am frühen Nachmittag losgeht. Endlich darf er ins Cockpit steigen. Rennanzug, eng anliegend, Handschuhe gegen schweißnasse und also glatte Hände, als Ritual den linken immer zuerst. Festzurren des Gurtes. Straff wie bei einem Korsett, weil jede nur millimetergroße Bewegungsfreiheit im Sitz das Gefühl für das Flugzeug verschlechtern würde. Dann bringt er die Maschine nach oben. Zwei kurze Schleifen, bevor es in den Luftraum des Rennkurses geht. Die kurze Zeit, die bleibt, um den Oberkörper maximal zu versteifen, Zehen, Füße, Beine anzuziehen. „Das drückt alle Venen und Adern zusammen und verhindert, dass das Blut aus dem Hirn absackt und man ohnmächtig wird.“

Dann geht es los. Tempo 370. Links. Rechts. Durch die ersten Pylonen, die nur zehn Meter auseinanderstehen. Kaum zwei Meter breiter als die Spannweite der Maschinen. Berührt man eine, ist der Sieg schon so gut wie verschenkt. Zwischen den Pylonen wird die Maschine schräg gestellt in den Messerflug, 90 Grad Seitenlage, die Flügel zum Boden zeigend. Um weniger Luftwiderstand zu haben. Dann runter. Senkrecht. Wieder hochziehen. Senkrecht. Looping. Alles in Bruchteilen von Sekunden. Flugzeug wieder gerade stellen. Die Maschine flattert. Letzte Pylone. Am Ende im Bestfall der Sieg.

Von Tannheim in die große, weite Welt

Wie bei drei von acht Rennen in der vergangenen Saison, die ihn schließlich zum Weltmeister machten. „Der Welt ist es zwar wahrscheinlich ziemlich egal, wer beim Air Race den Titel geholt hat oder nicht,“ sagt Dolderer. Aber für ihn sei dieser Titel nach der Geburt seiner Tochter trotzdem das Größte gewesen. „Das macht meine Fliegerbiografie irgendwie rund.“

Begonnen hat diese erfolgreiche Laufbahn in Tannheim. „Unser Flugplatz hier“, sagt er und zeigt mit dem Kopf nach draußen, „war der beste Spielplatz für mich.“ Es war der Ort, wo er fast all seine Zeit verbrachte, wenn er aus dem Kindergarten kam oder später aus der Schule. Wo er mit dem Vater mitflog und auch jeden anderen Piloten fragte, ob er bei ihm mal mitfliegen dürfe. Wo er mit 13 in einem Segelflieger seinen ersten Alleinflug unternahm. Wo es wenige Tage gab, an denen er nicht zumindest einmal in der Luft war. „Ich wollte immer wieder da hoch, in diese Leichtigkeit, in diese dritte Dimension. Das ist schon geil.“

Mit 18 ist Dolderer deutscher Meister im Ultraleichtflug, mit 21 Weltmeister. Kurz zuvor, 1990, kam seine Schwester, auch sie Kunstpilotin, bei einem Flug ums Leben. Was ihn nicht davon abhielt weiterzumachen. „Im Gegenteil.“ Im Jahre 2006 schließlich: deutscher Meister im Motorkunstflug. Ein Jahr später Weltmeister. Und 2008 erfliegt er sich dann die sogenannte Superlizenz für das Air Race, die ihn dort seitdem zum Start berechtigt.

„Dem lieben Gott ein Stückchen näher“

Dazwischen bringt er die Schule zu Ende und absolviert eine Ausbildung zum Industriekaufmann. So, wie es seine Mutter gerne hatte. Um geerdet zu bleiben für den Fall, dass die Fliegerei nicht genug zum Leben abwirft. Was sie mittlerweile tut – auch wenn man nicht reich damit wird. Deswegen gibt Dolderer neben seiner Tätigkeit beim Air Race, wo es immer nur übersichtlich dotierte Ein- bis maximal Zweijahresverträge gibt, noch Flugunterricht und hält Vorträge zum Thema Fliegen und Freiheit.

Mit 28 machte er die Verkehrsflugzeugführerlizenz und bewarb sich als Linienpilot. Er wurde abgelehnt mit der Begründung, dass sein Persönlichkeitsprofil nicht passen würde. „Ich war wahrscheinlich schon ein bisschen zu versaut vom Kunstflug“, sagt er. Ein Rallyefahrer tauge vermutlich auch nicht zum Busfahrer.

Wie lange kann er noch als Kunstflieger in der Weltelite mitmischen? An das Ende verschwende er keinen Gedanken, antwortet Matthias Dolderer – egal, ob es um die Karriere oder das Leben gehe. „Wenn du fliegst, bist du dem lieben Gott ja sowieso schon ein Stückchen näher.“