Ist Kunst systemrelevant? Eine Ausstellung in Karlsruhe lässt nur einen Schluss zu: Man sollte den Begriff schleunigst aus seinem Vokabular streichen.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Karlsruhe - Plötzlich war das Wort in aller Munde – und man staunte, wie die Welt so lange ohne es hatte auskommen können: systemrelevant. Ein Begriff, mit dem das Land wiedergutmachen wollte, was es jahrelang versäumt hatte, eine Art Adelstitel für all jene, die man bisher für meist wenig Geld hatte schuften lassen, die Verkäuferinnen im Discounter und die Putzkräfte im Krankenhaus, das Pflegepersonal und die Techniker im IT-Bereich. Der Terminus Systemrelevanz, der aus der knallharten Finanzwelt kommt und sich lange nur auf Großbanken bezog, wurde zum Inbegriff der Wertschätzung. Allein beim Aussprechen schien da ein sozialer Geist mitzuschwingen.

 

Bloß: Dort, wo das eine relevant ist, wird das andere umgehend irrelevant. Und es waren partout die Theater, Konzerthäuser und Opernhäuser, die Museen, Kinos und Buchhandlungen, die von heute auf morgen geschlossen wurden und sich die schmerzliche Frage stellen mussten, ob sie für die Gesellschaft denn nicht relevant sind. Ist Kultur nur ein Luxusangebot für bessere Tage, ein Freizeitangebot, damit es den satten Menschen in einer saturierten Gesellschaft nicht langweilig wird?

Für die Ausstellung wurden viele Menschen befragt

Die Kunsthalle Karlsruhe hat sich nun kurzfristig das Thema vorgenommen und die Ausstellung „Systemrelevant? Dass und wie wir leben“ konzipiert. Ein kluger wie anregender Beitrag zur aktuellen Pandemie, der zwar auch sehenswerte Werke von Rubens und Rembrandt, Picasso und Dix zeigt, aber vor allem deshalb so interessant ist, weil er den Begriff kräftig in die Mangel nimmt und hierzu viele Menschen quer durch die Gesellschaft hinweg gebeten hat, ihn aus ihrer Sicht abzuklopfen. Die Bandbreite ist groß und reicht von der Künstlerin Karin Sander, die überzeugt ist, dass „Kunst auch in der Krise systemrelevant“ ist, bis zum Soziologen Harald Welzer, der sagt: „Kunst ist in der Krise nicht systemrelevant.“

Welzers klare Ansage könnte vielen Kulturschaffenden gefallen. Denn auch wenn die freien Schauspieler, die kleinen Bühnen und Kunstvereine derzeit um ihre Existenz bangen und dankbar sind für jeden Cent, den sie vom Staat bekommen, so berührt es doch den wunden Punkt des Kulturbetriebs, dass er sich nicht vom System vereinnahmen lassen, sondern ihm kritisch gegenüberstehen will. Kunst und Künstler wohne „immer auch ein systemgefährdender bis systemfeindlicher Nucleus inne“, schrieb kürzlich die Süddeutsche Zeitung und fragte, ob es überhaupt gut wäre, „Künstler systemrelevant zu nennen, wenn Lufthansa, Waffengeschäfte und Autoindustrie es sind.“

Ist die Gestaltung der Zukunft nicht relevant für eine Gesellschaft?

Die Ausstellung in der Kunsthalle Karlsruhe will dagegen nicht die Frage beantworten, was systemrelevant ist, was nicht, weil das Problem bereits im simplen Dualismus steckt. „Natürlich sind wir nicht systemrelevant“, wird eine Studentin zitiert, der wie den meisten studentischen Aushilfen zum Beginn der Corona-Krise sofort gekündigt wurde. Ein Satz, in dem viel Verbitterung steckt und der zeigt, wie fatal es war, die Gesellschaft in zwei Kategorien zu unterteilen. Eine Betreuerin der Lebenshilfe fordert in ihrem Kommentar deshalb: „Dieses Wort sollte nicht im Zusammenhang mit Menschen verwendet werden.“

So zeigt die Karlsruher Ausstellung, dass der Begriff, der zunächst wohlmeinend eingesetzt wurde, wie ein Bumerang zurückgekehrt ist und viel Schaden angerichtet hat. Aber die Schau ist auf ganz leise, feine Art auch tröstlich, denn sie erinnert daran, dass Krisen zum Leben gehören. Constantin Meuniers Skulptur „Lastenträger“ (um 1889) etwa macht bewusst, dass Menschsein immer Mühsal bedeutet. Picasso hat in einer Radierung „Die Armen“ dargestellt, Max Beckmann erinnerte an die Folgen des Ersten Weltkriegs. Krankheit, Not, Verlust allüberall, hier ein Schiff, das in Seenot geraten ist, dort hat ein flämischer Meister die Explosion eines geheimen Schwarzpulverlagers 1658 in Delft gemalt. Bei dem Unglück hat der Maler sein Kind verloren.

Kunst zeigt auf, dass es mehr als das Hier und Heute gibt

Leiko Ikemuras Bronzefigur „Memento Mori“ zeigt eine Frau, die am Boden liegt. Ist sie tot? Wurde sie ans Land gespült? Die Skulptur ist nach dem Tsunami in Fukushima entstanden – und auch wenn sie Traurigkeit umhüllt, weckt sie doch Zuversicht, dass Krisen und Katastrophen vorübergehen. Eben dieses Erinnern an die größeren Zeitläufte, an das Schicksal anderer Menschen und Epochen ist tröstlich und stärkend. Und ganz nebenbei macht die „Vertreibung aus dem Paradies“ eines unbekannten Meisters bewusst, dass wir keinen Anspruch auf Glück und Gesundheit haben, sondern man hart darum ringen muss.

So lässt das anregende Zusammenspiel zwischen Kunstgeschichte und Gegenwart nur den Schluss zu, dass die Vorstellung vielleicht einfach nicht mehr zeitgemäß ist, dass Kunst und Kultur gegen das System arbeiten, dass das Publikum beschimpft oder an Sehgewohnheiten gerüttelt werden müsse. Die derzeitige Funktion von Kultur könnte eher die sein, sich miteinander weiterzuentwickeln, neue Perspektiven für die Gesellschaft zu erobern und das Bestehende zu hinterfragen. Kunst kann Gefühle wecken und damit auch Mitgefühl. Und sie ist der Ort, an dem die Gesellschaft wagen darf, neue Denkmodelle und Vorstellungswelten zu skizzieren. Ganz nebenbei kann sie wie im Falle der Karlsruher Ausstellung auch lehren, dass man seine Worte mitunter sorgfältiger prüfen und nicht alles willfährig nachplappern sollte.