Schönfärberisch und doch hochpräzise: die Kunsthalle Tübingen zeichnet in der Schau „Malen mit der Kamera“ die Entwicklung des Fotorealismus nach.

Überirdisch strahlt der Autolack, gleißend winden sich die Chromröhren des Motorrads, die Fenster von Telefonzellen und Schnellrestaurants spiegeln um die Wette. Stolze Besitzer präsentieren das gestriegelte Pferd im Vorgarten oder die Limousine vorm trauten Heim, und Straßenschluchten wie Süßigkeiten machen gleichermaßen Appetit: Was wie riesige Hochglanzfotos aussieht, ist Malerei des Fotorealismus. Dessen Entwicklung seit den 1960er Jahren stellt jetzt die Kunsthalle Tübingen mit 54, mehrheitlich aus den amerikanischen Anfangsjahren stammenden Öl- und Acrylbildern nach. In penibler Handarbeit nach fotografischen Vorlagen gefertigt, setzt hyperrealistische Malerei eine blank geputzte Dingwelt in helles Licht. Der Fotorealismus verherrlicht Klischees, gefällt sich in Schönfärberei, thematisiert das fotografische Medium und erfindet hochpräzise Maltechniken. Sein Markterfolg ist so beeindruckend, dass auch Kunsthistoriker nach dem Unterschied von Kunst und Kitsch nicht mehr fragen mögen.

 

Wie sehr der Fotorealismus von der Lifestyle-Fotografie der Vorstadtidyllen herkommt, lässt sich vorzüglich schon an den frühen Werken ablesen, die auf der Documenta von 1972 ein sehr gemischtes Echo fanden. Modische Wohnungseinrichtungen, schwere Trucks oder Schnellgaststätten an den Ausfallstraßen kamen aus Hochglanzmagazinen ins Motivrepertoire der Maler. Bald aber fotografierten sie ihre Vorlagen selbst, und manche spielten mit dem Verhältnis von Foto, Gemälde und Wirklichkeit.

Eine Verlassene im rotgepolsterten Auto

David Parrish und Tom Blackwell arbeiteten unmittelbar für die Motorradindustrie, ehe sie schwellende Feuerstühle in Untersicht malten, als knie der Betrachter vor dem Kultgegenstand. Don Eddy wiederum verfremdet seine blitzenden Automobile durch Anschneiden. Und wenn Richard Estes aneinandergereihte Telefonhäuschen malt, sieht man Spiegelungen, zugleich jedoch durchs Glas hindurch die in der Kabine sprechenden Personen – eine Rundum-Tiefenschärfe, die irritiert. Denn das menschliche Auge fokussiert entweder auf den Vorder- oder auf den Hintergrund, während Kamerabilder kombiniert werden können. Nur der Brite John Salt begnügt sich nicht mit dem fotografierten Gegenstand. Er erzählt vielmehr eine Geschichte, von einer Verlassenen im rotgepolsterten, weit geöffneten Auto („Bride“ 1969).

Wie die Pop-Art entstand auch der Fotorealismus Mitte der sechziger Jahre aus dem Widerspruch gegen das Diktat des amerikanischen Kunstbetriebs, der nur noch abstrakte Malformen gelten ließ. Einige Maler fühlten sich von intellektueller Kunst nicht angezogen und wollten die Massenkultur des „American way of Life“ ins Bild holen. Sie glorifizierten ihre Umgebung, zu der affektbesetzte Gegenstände, aber auch die Fotografie gehörten. Wölbungen und Glanzlichter arbeiteten sie überlebensstark heraus. Die Fotovorlagen spielten eine Doppelrolle, als Hilfsmittel wie als Sujet der Malerei.

Seit den 1980er Jahren widmeten sich die Fotorealisten auch außerhalb der USA komplexeren, städtischen Motiven. Anthony Brunelli fächert mit Hilfe der Panoramafotografie anerkannte Touristenmetropolen auf („Arno at Dusk“). Davis Cone und Robert Gniewek inszenieren Filmpaläste oder neonfunkelnde Fassaden als romantische Sehnsuchtsorte, Don Jacot malt Spielzeug für Riesen: So proben Blechautos vergnüglich die „Rush Hour“.

Ungeheurer Detailreichtum

Eine Ausnahme in diesem menschenleeren Kosmos bildet der Spanier Bernardo Torrens. Er modernisiert den weiblichen Akt, wenn er den Rücken einer anorexischen Schönen zeigt („Allì Te Espero“). Und beruft sich auf klassische Vorbilder der Kunstgeschichte wie Velázquez, zumal für dunkelfarbige Ganzporträts wie seine düster blickende „Küchenhilfe“. Ein Augenschmaus sind die Lollipops von Roberto Bernardi, virtuos gebündelt in barockem Schräglicht.

Unter den Jüngeren ist Clive Head ein Maler, der seine Vorlagen nicht bloß durch abfotografierte Realien gewinnt. Head entwirft in Skizzen Londoner Cafés oder U-Bahn-Ausgänge, macht daraus Kulissen, stellt Personen hinein, und die abfotografierten Szenerien werden dann zu spitzwegartigen Ölbildern transformiert. Der Israeli Yigal Ozeri setzt elfengleiche Frauen in märchenhafte Naturarrangements, um sie pixelreich abzufotografieren und die Projektion minutiös auszupinseln. Auch die Stadtveduten von Robert Neffson oder Raphaella Spence geben sich damit ab, das Schöne noch zu beschönigen, und Ben Johnsons beliebte Architekturbilder halten es nicht anders. Seine Perspektivwahl lädt den Betrachter an einen höchst privilegierten Ort, etwa aufs Dach der National Gallery am Trafalgar Square. Geschmeichelt darf er dem Säulenhelden Nelson über die Schulter sehen und findet die berühmteste Londoner Sehenswürdigkeit ohne Dunst und frisch gestrichen zu Füßen („Looking Back to Richmond House“). Dafür hat Johnson ein hoch kompliziertes Verfahren ersonnen, mit vielen, am Computer gemischten Fotos, lasergeschnittenen Schablonen und computerkalkuliertem Farbauftrag mittels miniaturisierter Spritzpistolen. Der Detailreichtum dieser Acrylmalerei ist ungeheuer und wird nur durch ihre sterile Coolness übertroffen.

Wofür man früher ein Fernrohr brauchte, reicht jetzt also eine Lupe, toll! Vielleicht aber wollen wir nicht nur bewusstlos gucken. Erinnern wir uns, ganz uncool. Susan Sontag brach ja 1964 eine Lanze für den „Camp“: es ging um das künstlerisch Banale und sozial Randständige. Der denkende Betrachter wurde herausgefordert, es in seiner Art anzuerkennen. Den schimmernden Alu-Leib eines Wohnwagens zu thematisieren (wie in Tübingen Ralph Goings, „Airstream“, 1970), hatte in der Tat etwas Befreiendes. Die Beschönigung des ohnehin Anerkannten, die Kumulierung von Effekten, die distanzlose Wunschbefriedigung haben es nicht. „Camp“ konnte die Kunst erweitern, Kitsch nicht, und Kult ist auch etwas anderes als die Freiheit der Kunst. Als dreißig Jahre später nicht nur die Unterschiede, sondern auch die Kriterien weg waren, hätte Sontag den Geist gern wieder in die Flasche gesperrt.