Kunsthalle Tübingen „Schöner Wohnen“ im Wandel der Zeiten

Auch in Tübingen haben Architekten ihre Visionen vom idealen Wohnen realisiert. Das Gebäude im Philosophenweg war nur kurzzeitig ein Hotel. Foto: Verlag Cramers Kunstanstalt Dortmund

Wo lebt es sich besser – in Bauten, die an Tiefseeschnecken erinnern, oder in Wohnmaschinen? Die Kunsthalle Tübingen zeigt in der Schau „Schöner Wohnen“ kühne Architekturvisionen.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Letztlich war es gut, dass sich seine Vision nicht durchsetzte. Denn allzu praktisch wäre eine Wohnung ohne eine einzige gerade Wand wohl nicht. Friedensreich Hundertwasser war trotzdem felsenfest davon überzeugt, dass das Grundübel aller Städte die gerade Linie ist. Die Menschen lebten wie Gefangene in diesem „Urwald der geraden Linien“, meinte er, und sagte der toten, rationalen Architektur den Kampf an mit einem „Verschimmelungsmanifest“. Nach dem Motto: Nur wo Schimmel ist, ist Leben.

 

Mal Naturnähe, mal funktionalistische Strenge

Aber er war eben Künstler, wie die meisten Visionäre, deren mehr oder weniger kühnen Ideen nun in der Kunsthalle Tübingen vorgestellt werden. „Schöner Wohnen“ nennt sich die neue Ausstellung, die das vergangene Jahrhundert noch einmal Revue passieren lässt und zeigt, wann man welche Architektur für die richtige hielt. Und diese bunte Truppe aus – zumeist männlichen – Künstlern, Gestaltern oder Architekten, trat keineswegs nur an, dem tradierten Wohnen etwas Neues entgegenzusetzen. Die meisten von ihnen waren überzeugt, die ultimative Lösung in Sachen Architektur gefunden zu haben.

Blick in die Tübinger Ausstellung – im Hintergrund der legendäre Nagakin Capsule Tower, 1972 in Tokio erbaut, 2022 abgerissen Foto: Kunsthalle Tübingen/Ulrich Metz

So sahen die Mitglieder der Künstlergruppe „Gläserne Kette“ das Heil im Kristall. Wenzel Hablik, ein Künstler aus Itzehoe, hielt vor rund hundert Jahren auf Gemälden fest, wie er sich diese kristallähnlichem Strukturen und an Kathedralen angelehnten Bauten vorstellt. Auch Bruno Taut war überzeugt, der „schlechten Wohnung“ unserer Erde endlich „eine gute Wohnung“ entgegensetzen zu können, indem er in die Alpen gläserne Bergspitzen bauen wollte, um eine kristalline Landschaft zu schaffen. Auf einem Entwurf in der Ausstellung schrieb er von Hand zum neuen Baustoff Glas: „Die Ausführung ist gewiss ungeheuer schwer und opfervoll, aber nicht unmöglich.“

Ein Modul des Nagakin Capsule Tower hat die Kunsthalle ergattert – es ist nun im Skulpturenhof zu sehen. Foto: Ulrich Metz

Vermutlich lag es am Schrecken des Ersten Weltkriegs, dass sich Künstler vor rund hundert Jahren in recht kühnen Visionen Zuflucht suchten. Hermann Finsterlin, der als Maler, Schriftsteller und Komponist tätig war, hatte sogar eine Art Erweckungserlebnis bei einer Wandertour auf den Watzmann. „Auf dem Gipfel“, frohlockte er, „ward mir die Erkenntnis“, deshalb wollte er fortan Häuser entwerfen „wie reizvoll geformte Organe“ und vergleichbar mit „Tiefseeschnecken, seltsamen Pilzen und Früchten oder Wolken“.

Nicole Fritz, die Direktorin der Kunsthalle, hat gemeinsam mit Zita Hartel einen interessanten Streifzug durch die Architekturvisionen von 1900 bis heute nachgezeichnet, der zeigt, wie sich Themen im Wandel der Zeiten wiederholen und wie sich letztlich immer wieder nach dem Ruf nach Naturnähe doch wieder Strenge, Kühle und Funktionalismus breit machten. So folgte auf die Realitätsferne der Expressionisten die Idee der „Wohnmaschine“, ein Schlagwort, das der Architekt Le Corbusier 1921 prägte und das alsbald große Verbreitung fand.

Rechteckig, praktisch, gut

Wenn es nach Walter Gropius ging, sollte sich „das Leben unserer Epoche in reinen, vereinfachten Formen“ ausdrücken. Rechteckig, praktisch, gut. Und wie viele andere Visionäre seiner Zeit war auch er davon überzeugt, dass sich die richtige Architektur positiv auf Mensch und Gesellschaft auswirke. „Geformtes formt“ lautete ein Slogan und meinte, dass eine schlüssige und schlichte Gestaltung beruhigend auf den Menschen wirke.

Bei mancher Vision in der Tübinger Ausstellung kann man froh sein, dass sie sich nicht durchsetzte – denn wer will schon seine Tage in einer aufblasbaren Kunststoffhülle fristen, die das Künstlerkollektiv Hans-Rucker-Co 1967 präsentierte. Es ist eine Art Raum im Raum, in dem man hinter sich den Reißverschluss zumacht und eine Maschine Frischluft hineinbläst.

1967 präsentierte das Künstlerkollektiv Hans-Rucker-Co einen aufgeblasenen Raum im Raum. Foto: Ulrich Metz

Auch die Universitätsbibliothek von Bagdad, die Walter Gropius in den 1960er Jahren entwarf, ist weniger heimelig als sie Helmut Jacoby auf einer Illustration darstellte. Der Deutsche war eigentlich selbst Architekt, machte sich in New York aber als „Renderer“ selbstständig und fertigte Schaubilder von Architekturentwürfen an – zu Werbezwecken. Den Betonklotz von Gropius bettete er dazu in ein attraktives Ambiente ein mit Palmen, Sträuchern, luftigen Terrassen und entspannten Passanten, sodass er bescheiden und klein wirkt.

Es fällt auf, dass der Mensch in den meisten Utopien des 20. Jahrhunderts keine Rolle als Individuum spielte, sondern bestenfalls Statist in den Visionen der Weltverbesserer sein durfte – im Gegensatz zu heute, wo Utopien obsolet sind und neue Konzepte die Menschen vor Ort einbezieht. Das zeigen die Auftragswerke für die Ausstellung. So lässt Jan Kamensky in seiner Videoarbeit im Tübinger Wohngebiet Wanne unsichtbare Kräfte walten. Bodenfliesen heben sich plötzlich, und Pflanzen wachsen, Ampeln, Geländer und Pfosten werden zu freundlichen, gewellten Objekten verformt, und aus der Betonwüste wird Stück für Stück eine lebenswerte Oase.

Von Tokio nach Tübingen

Mini-Appartement
1972 errichtete Kisho Kurokawa in Tokio den Nagakin Capsule Tower, der aus standardisierten Modulen zusammengesetzt war. Als der spektakuläre Bau 2022 abgerissen wurde, sicherte sich Tübingen eines der Module, das während der Ausstellung besichtigt werden kann. Es ist mit großem Bett, winziger Küchenzeile, Einbauschränken und Bad ausgestattet – plus eingelassen in die Wand: TV, Radio und Tonband.

Info
„Schöner Wohnen. Architekturvisionen von 1900 bis heute“. Kunsthalle Tübingen. Bis 19. Oktober, geöffnet Di – So 11 bis 18 Uhr, Do 11 bis 19 Uhr.

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