Im neuen Ravensburger Kunstmuseum wird bis zum 16. Juni die Eröffnungsschau „Appassionata“ gezeigt – mit achtzig expressionistischen Werken vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Ravensburg - Dank der Sammlung Selinka hat Ravensburg einen Museumsneubau bekommen. Das jüngste Haus in der südwestdeutschen Museumslandschaft wartet mit rühmenswerten Eigenschaften auf. Nicht nur schreibt seine Architektur sprechend und harmonisch die Silhouette der alten Reichsstadt fort. Die neue Institution gibt sich auch konsequent bürgernahe Ziele. Und die Eröffnungsausstellung gibt mit achtzig expressionistischen Werken einen guten Überblick über die Aufwertung der Emotion in der Kunst vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

 

Es gehe darum, sagt die Gründungsdirektorin Nicole Fritz, die Bürger der eigenen Stadt, ob jung oder alt, an die bildende Kunst heranzuführen. Nicht die Kunstbetrachtung allein, sondern das eigene Erproben im Dialog mit der Kunst stehe im Mittelpunkt. Diese pädagogische Vorgabe passt nicht nur zu den Notwendigkeiten der Zeit, sie weiß sich dem Bürgersinn der Stadt verpflichtet, der sich in diesem Konzept wiederfindet. Einen Anschaffungsetat gibt es nicht, aber zahlreiche freie Mitarbeiter und ehrenamtliche „Scouts“. All das entspricht vorzüglich dem Charakter der Sammlung, die Sinnlichkeit, Emotion und Fantasie ins Zentrum stellt.

Wohlsortierter Expressionismus

Man kann sich der Eröffnungsausstellung auf verschiedenen Wegen nähern. Spürte man biografisch dem Sammler nach, dessen Witwe zweihundert Werke der Stadt für dreißig Jahre geliehen hat, begänne man mit der ersten Erwerbung Peter Selinkas. 1952, gerade Werbeleiter der Pharmafirma Thomae geworden, erwarb er die blau gedruckte Radierung „Liegender Mädchenkopf“ Ernst Ludwig Kirchners von 1917, deren Kaufpreis er bei einer Berliner Galerie abstotterte. In scharfen, fahrigen Nadelstrichen äußern sich die Angst und der irre Blick der Kranken. Kirchner suchte damals in Schweizer Sanatorien Heilung von seinem Zusammenbruch im Weltkrieg, und die Verzweiflung der Porträtierten spiegelt seine eigene. Nun hängt das Blatt im ersten Stock, wo Einsamkeit und Außenseitertum im zweiten Jahrzehnt des Expressionismus thematisiert werden.

Man ist gut beraten, sich an die Chronologie der Ausstellung zu halten

Mit olivgrünen Zügen, den Kopf in der klassischen Melancholikerpose auf die Hände gestützt, begegnet es hier Erich Heckel in einem Selbstporträt in dreifarbigem Holzschnitt. Die „Kupplerin“ von Otto Dix, eine virtuose Farblithografie in Zinnoberrot, Gelb und Kobaltblau, zeigt zwar ein Herrscherinnenporträt mit einer flammenden Röte von Haar, Lippen und Hautfalten, mit massig-robustem Fleisch und breitknochigem Gesicht, doch es ist eines der Unterwelt, die von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen wird. Man könnte auch gleich dorthin stürmen, wo die erotische Befreiung vom Anfang des 20. Jahrhunderts im Zentrum steht.

Da schlägt einen, überlebensgroß, eine junge Frau in den Bann. Die großen Augen unter lasziv hängenden Lidern, der schwellende, leicht geschürzte Mund, die Wangen mit burgunderroten Flecken, die summarisch vereinfachte, schwarze Kontur von Kinn, Brauen und Nase: das „Spanische Mädchen“ von Alexej Jawlensky, 1912 nicht lange nach seiner Begegnung mit Gauguin und seiner Abkehr vom Neoimpressionismus entstanden, ist die „Mona Lisa“ der Sammlung und kaum weniger rätselhaft und faszinierend als die Renaissanceschönheit.

Man ist aber gut beraten, sich an den chronologischen Verlauf der Eröffnungsausstellung zu halten. Sie führt an die Urszenen des Aufbruchs der Brücke-Künstler, das Bohemeleben an den Moritzburger Seen mit den Aktstudien. Unter den fröhlichen Nacktbadenden fällt vor allem ein Blatt von Max Pechstein von 1911/12 auf, das die Gestalten im flachen Uferwasser in fließenden Rhythmen ins Gegenlicht stellt, umfangen von lockenden Wasserspiegeln und Segelbooten. Herausragend sind in ihrer Diagonalkomposition auch die „Weißen Pferde“, ein Farbholzschnitt von Erich Heckel in pastelligen Tönen. Eine Vorliebe Selinkas galt Otto Mueller, der nicht nur mit seinen spitzgesichtig-gefälligen Paaren, sondern auch mit zwei Versionen des „Zigeunerkinds im Dorf“ vertreten ist. Auch der Blaue Reiter ist vertreten, mit sehenswerten Werken von Kandinsky, Münter und Nolde, deren Farbkraft zur späteren Entwicklung weiterleiten.

Das Tier im eigenen Selbst

In der zweiten Etage geht es mit der Kunst nach 1945 weiter

Der zweite Stock ist denen gewidmet, die nach 1945 das Anliegen der Expressionisten wieder aufnahmen. Durch das rote Ziegelgewölbe mit seinen gegenläufig sich verjüngenden Tonnen hat schon der Saal eine Wucht und Spannung, die ihn zum idealen Widerpart der heftigen Gemälde der Cobra- und Spur-Künstler macht. Nicht nur Sinnenfreude und Verzweiflung, wie die vorige Generation, sondern ungezügelte Fantasie und eine bis zur Destruktion gehende Animalität brachen sich jetzt in starken Farben Bahn. Die Künstlergruppe Cobra erinnerte an die Gewalten, die zum Krieg geführt hatten, und protestierte gegen die Geschichtsblindheit der damals herrschenden abstrakten Kunst. In grob pastoser Ölfarbe schleudert Asger Jorns 1962 seine „Appassionata“ auf die Leinwand, jene Feier der Leidenschaft, die der Schau den Titel gab. Die mit dem Spachtel hingehauenen Bilder von Karel Appel sind wahre Explosionen grell gegeneinander gesetzter Farben. Will man das Tier im eigenen Selbst ausdrücken, kann das ungenießbar heftig werden. Manchmal kommen auch sehr humorvolle Kompositionen heraus, zumal, wenn Pierre Alechinsky im Tanzrhythmus die menschliche Maskerade feiert (im Bild „Gilles végétal“, 1967).

Künstler der Gegenwart materialisieren ihre Gefühle in Fabelwesen, wie Saskia Niehaus in einer aus Flachsfaser und Wachs zusammengekleisterten Vogelskulptur. Jonathan Meeses Holzschnitt „Mr. Dr. Glibberbabyferkelinchena“ von 2008, sieht aus wie ein vorausgenommener Kommentar zu den Capricen von Dominique Strauss-Kahn. Nach Ausdruck für die eigenen Emotionen zu suchen bleibt jedoch ein wesentlicher Antrieb, und die Farbe ihr erstes Ausdrucksmittel: „Never move far from Color“, mahnt schließlich Maurizio Nannucci in farbiger Neonschrift.