Der Stuttgarter Konzeptkünstler Erik Sturm hat die dickste Freiburger Werbesäule ausgemacht. Jetzt will er sie entblättern und einen Einblick in die Vergangenheit erhalten.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Freiburg - Mit der Kettensäge in der Hand schreitet Erik Sturm zur Tat. Vorsichtig tranchiert er ein rechteckiges Loch aus der Litfaßsäule am Freiburger Wiehre-Bahnhof. Fünf Zentimeter dick ist der Plakateblock. Der 39-jährige Stuttgarter darf nicht zu tief sägen. Sonst stößt er auf den Betonkern der Säule.

 

Das ungewöhnliche Kunstprojekt, bei dem ein recht gewöhnliches Straßenmöbelstück im Zentrum steht, soll einen Einblick in die Alltagskultur der vergangenen Jahrzehnte gewähren. Mehr als 500 Blätter, schätzt Sturm, sind aufeinander geklebt. Die Plakate der obersten Schicht, die erst kurz vor Beginn der Aktion weiß überklebt wurden, warben für eine Kunstausstellung im Kunsthaus Beyerler in Basel, für ein Theaterstück und für das archäologische Museum. Was sich in den unteren Schichten verbirgt? Sturm hat keine Ahnung. Die ältesten Plakate dürften 25 Jahre alt sein – so genau weiß das schließlich niemand.

Wie sahen Plakate vor einem Vierteljahrhundert aus?

Welche Sprache, welche Bildsprache wurde damals gewählt, welche Produkte und Veranstaltungen spielten eine Rolle? Unter den Augen interessierter Bürger will er in den kommenden Wochen unter der dortigen Kastanienallee Blatt für Blatt voneinander lösen und so in der Zeit zurückblättern.

Auch dabei muss er vorsichtig sein. Klebstoff konserviere gut, sei aber auch ziemlich störrisch. Er verwende ein in den vergangenen Jahren entwickeltes Geheimrezept, bei dem – so viel sei verraten – Wasserdampf eine wesentliche Rolle spiele.

1855 von dem Berliner Druckereibesitzer Ernst Litfaß entwickelt, um der in Berlin um sich greifenden Wildplakatiererei Herr zu werden, stehen heute mehr als 50 000 Litfaßsäulen auf Deutschlands Straßen und Plätzen. Die meisten werden regelmäßig durch eine zuständige Außenwerbungsfirma gereinigt. Doch wehe, der richtige Zeitpunkt wird verpasst. Dann legen sie Plakatspeck an, der nur schwer zu entfernen ist.

Die Litfaßsäule in der Wiehre sei fraglos eine der dicksten in der Stadt, sagt Sturm – allerdings nicht mehr lange. Denn das war Bedingung: nach Ende des Projekts muss er die komplette Säule entblättern. Denn eine Litfaßsäule mit Loch lässt sich nur schwer wieder mit Werbung bekleben.