Kunstverein Neuhausen „Kunst muss Position beziehen“

Professorin Birgit Brenner in der Ausstellung „Eat your Words“ im Projektraum des Kunstvereins Neuhausen. Foto: Gaby Weiß

Studierende der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste haben sich mit dem Sinnverlust von Sprache in den Medien beschäftigt. Der Kunstverein Neuhausen zeigt die Arbeiten in seiner Ausstellung „Eat your Words“.

Neuhausen - Falsch? Richtig? Lüge? Wahrheit? Um die Widersprüchlichkeit von Nachrichten und Meinungen, um gezielte Desinformation, Manipulation und Fake News dreht sich die neue Ausstellung im Projektraum des Kunstvereins Neuhausen. Studierende der Installations-Klasse von Professorin Birgit Brenner an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart haben sich auf unterschiedlichste Weise mit dem Sinnverlust von Sprache im Alltag, in den Medien, in den sozialen Netzwerken und in der Kunst auseinandergesetzt. Sie haben recherchiert, ein Konzept erstellt und eine ausdrucksstarke Präsentation der einzelnen Arbeiten für den Ausstellungsraum, eine ehemalige Kapelle, erdacht. Mit Fotos, Drucken, Videos, Multimedia-Werken und Installationen drücken sie in wirkmächtigen Bildern ihr Befremden angesichts von Sprache und Bildern aus, die immer unzuverlässiger werden. „Eat your Words“ ist die Ausstellung überschrieben, frei übersetzt: „Schluck es runter!“.

 

Boxring mit Stacheldraht

Ein Boxring, der mit Stacheldraht anstatt mit Seilen bespannt ist, prägt die Szene im Erdgeschoss. Blutrote Folien bringen das Kopfkino auf Hochtouren. Auf der Empore thront ein Fahrrad, dessen Stützräder, Spinnenbeinen gleich, überall Halt suchen – vergeblich. Da gibt es Porträts von Prominenten, die unter futuristischen Kopfbedeckungen hervor ernst in die Welt blicken. Lassen sich unterschiedliche Ansichten unter einen Alu-Hut bringen? Auf einem Rednerpult schmilzt ein Eisblock vor sich hin, ein Mikrofon wird sichtbar, eine Pfütze bleibt. Die formalen Ansätze und künstlerischen Positionen der Studierenden sind vielfältig, was den Besuch der Ausstellung sehr reizvoll macht: „Ich bin begeistert davon, wie stark sie sich auf das Thema eingelassen haben. Mir ist wichtig, dass jeder aus seiner Persönlichkeit heraus seine eigene Handschrift und Bildsprache entwickelt“, betont Birgit Brenner.

Dialog im Beichtstuhl

Im einstigen Beichtstuhl geht ein Dialog zwischen den sechs Stimmen von Sorge, Hass, Liebe, Lüge, Wahrheit und Einspruch als Sound-Installation unter die Haut. Nebenan verführt eine Skulptur aus Glasampullen mit ihrer aparten Ästhetik dazu, die zugrunde liegende Verschwörungstheorie um jenen Stoff, der vermeintlich aus dem Blut gequälter Kinder hergestellt wird, zu persiflieren. Eine Arbeit zitiert jene Videoclips aus dem Internet, die gefilmte Langeweile zeigen. Um die Leute trotzdem vor dem Rechner zu halten, wird aus dem Off suggeriert, dass diese Filmchen toll und einmalig seien: „Oh, wow, amazing.“ Mit einem eigens für die Schau programmierten Bot, der seine ihm auferlegten Aufgaben automatisiert abarbeitet, lässt sich ein Informationsstrom durchsieben – oder doch nicht? Über-Information lässt Orientierungslosigkeit und deformierte Körper zurück und stört die Wahrnehmung des eigenen Selbst.

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Welche Informationen sind sicher? Welche Quellen sind zuverlässig? Wer sagt was mit welcher Absicht? Wem oder was kann ich noch vertrauen? Mit diesen Fragen in einer von Reizen überfluteten Zeit, in der sich Geschriebenes rasant in der Welt verbreitet, haben sich die Studierenden beschäftigt und versucht, die Fragen und mögliche Antworten in ästhetische Bilder zu übersetzen. Angesichts von Instabilität, Wertewandel und Sinnverlust und angesichts steigenden Misstrauens und zunehmender Zweifel bildet manch einer nur noch Resignation und Trostlosigkeit ab.

Gesellschaftliche Phänomene erkennen

„Wir sind keine Sofa-Dekorateure. Was nur dekorativ in der Ecke steht, ist für mich keine Kunst“, macht Birgit Brenner ihren Ansatz klar. „Wir haben als Künstlerinnen und Künstler einen gesellschaftlichen Auftrag. Wir müssen gesellschaftliche Phänomene erkennen und aufarbeiten. Als Künstler muss man sich einmischen. Man muss manchmal radikal sein. Kunst muss Position beziehen, Fragen aufwerfen und Diskussionen anzetteln.“ In ihrer Klasse fördert Birgit Brenner das kritische Nachdenken: „Aber die Studierenden sollen trotzdem gute Bilder finden, die eine Poesie haben und eine Ästhetik.“ Wieder einmal hat der Kunstverein Neuhausen mit seiner künstlerischen Leiterin Susanne Jakob Studierenden den so wichtigen Freiraum fürs experimentierende Arbeiten verschafft. Und wieder einmal ist der Kunstverein für diesen Mut mit beeindruckenden Ergebnissen belohnt worden.

Die Ausstellung und ihre Macherinnen und Macher

Die Studierenden
 In der Ausstellung des Kunstvereins Neuhausen sind Arbeiten zu sehen von Josephine Boger, Marie David, Daniel Frey, Juliane Gebhardt, Hendrik Jaich, Leonie Klöpfer, Christina Koch, Clarissa Kassai & Hendrik Jaich alias Lesdör, Lloyd Marquardt, Seonha Park, Ann-Sophie Reiners, Lea Rossatti, Florian Siegert, Lina Baltruweit & Johannes Breuninger alias Super Vivaz, Benedikt Waldmann und Lucia Vitale.

Die Professorin
Birgit Brenner unterrichtet seit 2007 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart als Professorin für Installation in der Fachgruppe Kunst. Sie hat in Darmstadt und Berlin studiert und war Meisterschülerin der Bildhauerin, Aktionskünstlerin und Filmemacherin Rebecca Horn. Birgit Brenners Installationen, Videos, Zeichnungen und Skulpturen sind in zahlreichen Kunstsammlungen vertreten.

Die Ausstellung
„Eat your Words“ ist bis zum 12. Dezember im Projektraum des Kunstvereins Neuhausen (Rupert-Mayer-Straße 68 B) zu sehen. Die Schau ist samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Am Sonntag, 12. Dezember, wird bei der Finissage zwischen 15 und 18 Uhr die zur Ausstellung entstandene Publikation vorgestellt.

Weitere Infos
unter https://kvnneuhausen.com

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