Kunstverein Neuhausen Verunsichert in der Informationsflut

Ein Fahrrad mit zahllosen Stützrädern verhakt sich auf der Suche nach Halt im Ausstellungsraum von „Eat your Words“. Die Künstlerin Josephine Boger will damit das wachsende Bedürfnis vieler nach absoluter Sicherheit hervorheben. Foto: /Natalie Brehmer

Studierende der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste zeigen im Kunstverein Neuhausen Arbeiten über Netzkommunikation. Die Ausstellung „Eat your Words“ zeichnet ein düsteres Bild der sozialen Medien.

Digital Desk: Simon Koenigsdorff (sko)

Neuhausen auf den Fildern - Schon die erste Installation der Ausstellung schafft Verunsicherung. Wer den Kunstverein Neuhausen betritt, eine ehemalige Kapelle, den begrüßt ein blau leuchtendes LED-Panel, auf dem in rascher Folge Worte und Satzfragmente aufblitzen. Wahr oder falsch, echte Erinnerung oder Illusion? Das lässt das Werk von Leonie Klöpfer offen – und mit diesen Gegensätzen spielen weite Teile der Ausstellung „Eat your Words“ (deutsch: „Schluck das Gesagte herunter“), die Studierende der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste während der vergangenen Coronasemester vorbereitet haben. Folgerichtig und höchstaktuell beschäftigten sie sich in ihren Installationsarbeiten mit der Kommunikation im Internet und den sozialen Netzwerken.

 

Ihre Professorin Birgit Brenner betont, wie zeitgemäß die Themenwahl gerade für die Generation der Studierenden sei. „Es war mir wichtig, dass jeder seine Handschrift und seine eigene Sprache nutzt, um das Thema aufzugreifen“, sagt sie. Und so reichen die Installationen von solchen, die direkt auf die Ästhetik sozialer Medien Bezug nehmen, zu solchen, die Kommunikation auf einer abstrakten Ebene verhandeln.

Apps ziehen in den Strudel der Aufmerksamkeitsökonomie

Im Hauptraum der Ausstellung zieht eine großformatige, hypnotische Videoinstallation von Christina Koch die Blicke auf sich, die virale Videotrends auf Youtube und Tiktok aufgreift. Aus der Draufsicht bemalen zwei Hände eine weiße Fläche, schmieren allerlei weitere Zutaten von Sahne bis Stroh darauf, und eine Stimme verspricht beständig: „Du wirst nicht glauben, was als Nächstes passiert!“ Doch statt zu einem Ende, einer Auflösung, einem befriedigenden Ergebnis zu finden, wird die Szene nur stetig absurder. Der ertappte Betrachter sieht sich gekonnt in den Strudel der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie gezogen.

Im Vorraum hat Daniel Frey quadratische Fragmente von Vinyl-Schallplatten zusammengefügt, damit buchstäblich die darauf gespeicherten Informationen aus dem Kontext gerissen und so eine Repräsentation digitaler Falschaussagen geschaffen, die auf mehreren Ebenen einleuchtet. „In unserem schnellen Zeitalter wird alles sehr verkürzt, im Gegensatz dazu, sich Zeit zu nehmen, um eine Platte zu hören“, erläutert Frey.

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Im benachbarten Beichtstuhl hat Lea Rossatti vier Lautsprecher angebracht, aus denen Hass und Sorge in Form von sechs Stimmen sprechen. Doch: „Der Hass überlagert die Sorge“, sagt Rossatti. Die Stimmen vermischen sich, fallen sich gegenseitig ins Wort und hinterlassen beim Hörer die beklemmende Frage, wer im Durcheinander des gesellschaftlichen Diskurses zu Wort kommt.

KI-Gesprächspartner als ultimative Filterblase

Ein Stockwerk höher lädt die Arbeit von Ann-Sofie Reiners wiederum zum aktiven Eintauchen ins Digitale ein: Auf einem einsamen Smartphone wartet in der App „Replika“ eine Künstliche Intelligenz auf die Besucher. Reiners hat wochenlang mit dem selbstlernenden Bot gechattet, um sie zu einem Abbild ihrer Persönlichkeit zu formen – „eine sehr skurrile Beziehung zu einem selbst“, wie sie sagt. Nun kann sie zwar Fragen beantworten, doch als Spiegelbild bestätigt die KI stets ihr Gegenüber und schafft so die extremste Form der Filterblase.

Auf der Empore der ehemaligen Kapelle sucht ein frei schwebendes Fahrrad nach Halt, indem es zahllose Stützräder an langen Streben in jeden Winkel des Raums ausstreckt. Josephine Boger erklärt, wie ihre Installation ein Sicherheitsbedürfnis pointiert: „Es gibt eben keine einhundertprozentige Absicherung gegen Fake-News, genauso wenig gegen Corona.“

Ihr Kommilitone Benedikt Waldmann präsentiert daneben eine rotierende Lampe, deren Lichtschein kaum durch einen Mantel aus Buchstaben nach draußen dringt. Waldmann geht es dabei um die Überflutung mit widersprüchlichen Informationen: „Unserer Generation muss man nicht erklären, was Fake News sind, wir haben uns eher auf die Gefühle konzentriert, die das auslöst.“

Generation mit pessimistischer Sicht auf die Welt

Brenner bestätigt den Eindruck, dass die Arbeiten der Studierenden in der Summe ein eher pessimistisches Gesamtbild digitaler Kommunikation zeichnen. „Ich habe den Studierenden am Anfang gesagt: Es geht nicht um Illustration“, sagt Brenner. „Ihr müsst recherchieren, das Pro und das Contra abwägen und ein eigenes künstlerisches Bild finden. Wenn man kritisch an ein Thema herangeht, spiegelt sich das auch in der Arbeit wieder.“ Gerade angesichts wachsender Umweltzerstörung habe die junge Generation auch keine besonders positive Grundsicht auf die Welt.

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Susanne Jakob, Künstlerische Leiterin des Kunstvereins Neuhausen, sieht in der Zusammenarbeit mit den jungen Künstlerinnen und Künstlern einen großen Gewinn. Deswegen lädt sie immer wieder Studierende in den Projektraum ein, wie sie erklärt: „Wir sehen immer neue Interpretationen des Kunstbegriffs durch junge Künstler, das ist wie ein Seismograf für die jeweilige Zeit.“

Ausstellung

Termine
Die Ausstellung im Projektraum des KV Neuhausen (Rupert-Mayer-Str. 68B) ist noch bis zum 12. Dezember samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung zu besichtigen. www.kvnneuhausen.com

Finissage
Bei der Finissage am 12. Dezember um 15 Uhr wird eine projektbegleitende Publikation mit Beiträgen der Studierenden vorgestellt.

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