Sie leben als Staat im Dunkeln mit einer Königin. Doch es ist eine andere Besonderheit, weshalb der Nacktmull für die Wissenschaft interessant ist.
Groß und Klein sind fasziniert von diesen außergewöhnlichen Tieren in der Wilhelma. Das weiß auch Zawadil, der seit September 1997 in dem Stuttgarter Zoo tätig ist. Er hat im Stuttgarter Zoo seine Ausbildung absolviert, kümmert sich seit 2016 ums Vogelhaus und seit 2022 auch um die Vögel aus Afrika, Asien und Südamerika. Während er als Kind noch nie etwas von Nacktmulle gehört hatte, ist das heute anders: Seit es 2019 Nacktmull Rufus in der Zeichentrickserie Kim Possible der Walt Disney Company gibt, sind Kinder von dem Tier begeistert. In der Wilhelma können Sie sie gut beobachten, denn die Gucklöcher in der rechteckigen Behausung, die von vorne wie ein Schrank aussieht, gibt es in allen Höhen, auch gut für die kleinen Tierfans einsehbar.
Nacktmulle leben im Zoo in zwei Staaten
Auch Zawadil ist von diesen Tieren fasziniert, wenn der Pfleger in den begehbaren Schrank hinter die Kulissen geht und das Reich der Nacktmulle zeigt und erklärt. In zwei Etagen leben die Tiere, jeweils fünfzig pro Gruppe. Doch nicht einfach so. Sie bilden jeweils einen Staat, der vielerlei Kurioses offenbart. In den elf Kästen, die durch PVC-Rohre verbunden sind und die Natur nachbilden, herrscht ständig Bewegung, ein Kommen und Gehen. Die Tiere sind immer auf Tuchfühlung, immer beieinander im Staat. Aber: Sie leben fast zeitlos, kennen kein Tag und keine Nacht und keine Jahreszeiten.
Fast blind und ständig unter der Erde
Die nackten Tiere laufen geschäftig durch etwa 5,5 Zentimeter große Gänge. Zwei Tiere kommen gerade gut aneinander vorbei. Wie in ihrer Heimat in Ostafrika. Sie leben ständig unter der Erde. Also kein Problem, dass sie kaum etwas sehen können.
Das Wichtigste sind ihre großen Vorderzähne. Mit denen beißen sie sich durch die Gänge. Und auffällig ist das dauernde Quietschen in unterschiedlichsten Tönen: so unterhalten sie sich. Ihre Kommunikation bildet ein eigenes Forschungsfeld. Experten haben sogar unterschiedliche Dialekte ausgemacht.
Jedes Tier hat seine Aufgabe im Nacktmull-Reich
Als Zawadil einen Nacktmull vorsichtig am Hinterteil herausnimmt und in eine extra Kiste setzt, fällt auf: Das etwa 13 Zentimeter große rosafarbene Tier mit faltiger dünner Haut und stecknadelgroßen schwarzen Punktaugen kann genauso gut vorwärts wie rückwärts laufen. „Jedes hat eine Aufgabe“, weiß der Tierpfleger. Denn: Der Staat wird von einer Königin regiert. Und die ist die Größte, vielmehr die Längste. Nur sie kann Nachwuchs bekommen. Wenn sie noch jung ist, sind es etwa 10 bis 15 Tiere pro Wurf, später auch mal 25. Und: Bei den Schwangerschaften werden die Königinnen nicht dicker, sondern länger in ihrer Wirbelsäule, damit sie sich weiterhin durch die Gänge bewegen können. Im oberen Staat ist die Königin gerade schwanger, zeigt Zawadil. Sie ist sehr lang und hat auch schon Zitzen, an denen später die Nachkommen säugen, die bei ihrer Geburt noch ganz klein und etwa drei Gramm schwer sind. Die Königin im unteren Staat kann derzeit noch einen Buckel machen. Für den Tierpfleger das Zeichen, dass sie derzeit nicht schwanger ist.
Arbeiter graben und suchen Futter
In dem Staat gibt es Tiere, die Arbeiter heißen. Sie haben die Aufgabe, Gänge zu graben und nach Futter zu suchen. Und sie kümmern sich um die Jungtiere, die sie der Königin, die die einzige ist, welche Nachwuchs bekommen kann, zum Säugen bringen. Muttermilch ist das einzige, was die Tiere zu Beginn ihres Lebens trinken. Sonst trinken sie nichts. Feuchtigkeit beziehen sie aus ihrem Futter: Gemüse und Wurzeln. Dann gibt es noch die Tiere, die als Soldaten fungieren, also für die Verteidigung zuständig sind. Die Oberaufsicht aber hat die Königin.
Nur die Königin kann schwanger werden
Das Interessante: Da nur die Königin im Staat schwanger werden und gebären kann, kommt es zu Kämpfen, wenn sie stirbt. Wird es mal blutig, kann es sein, dass Tiere gefressen werden, weiß der Pfleger. Der Vorteil: So entstehen keine Krankheiten. Zudem sind sie fast schmerzunempfindlich. Dies und auch die Tatsache, dass Nacktmulle so gut wie keinen Krebs bekommen können, beschäftigt auch die Wissenschaft. Forscher machen dies möglicherweise an einem bestimmten Zuckermolekül, der Hyaluronsäure, fest. Auch in der Wilhelma gab es mal eine Anfrage: „Wir hatten mal eine Untersuchung zum Kot der Tiere“, sagt Zwadil. Dabei ging es um Antibiotika-Rückstände bei einem Forschungsvorhaben von Tierärzten. Besonders seit den achtziger Jahren sei das wissenschaftliche Interesse an den Tieren gestiegen, weiß der Zootierpfleger. Geforscht wurde zunächst vor allem in Amerika.
Aufstände beendet die Königin
Die hiesigen Tiere in der Wilhelma stammen aus Dresden. Wichtig für die Tiere ist, dass sie immer die gleiche Luftfeuchtigkeit von 70 Prozent haben und Temperaturen von 25 bis 28 Grad. Auch dürfen sie keine Erschütterungen ausgesetzt werden. Deshalb leben sie hinter einer Doppelscheibe. Weil sie viel nagen und fressen, sind die Wände ihrer Kästen innen mit Beton ausgekleidet. Sie leben auf Kokosfasern und ihre Nester bauen sie mit Papier. Dieses nimmt auch die Feuchtigkeit auf. Gibt es mal Aufstände bei den Tieren, die bis zu 30 Jahre alt werden können, schreitet die Königin ein, die etwa 60 Gramm wiegt, wenn sie nicht schwanger ist. „Sie ist Staatsführung und Polizei in einem“, sagt Zawadil. Streiterei im Nacktmull-Reich hat Zawadil auch schon erlebt und ein stark verletztes Tier am Kopf gepflegt und festgestellt, wie robust es war. Da die Tiere keine Krallen haben, sind die Zähne für sie wichtig. Das Problem: Wenn sie sie nicht mehr haben, sterben sie. Denn: Keines der anderen Tiere kümmert sich darum. Mit den Zähnen tragen sie das Futter in den Bau und pflegen sie ihre Kontakte.
Seit 2022 im Haus für Kleinsäuger, Vögel und Insektivoren
In der Wilhelma sind diese Tiere seit der Einweihung des Hauses für Kleinsäuger, Vögel und Insektivoren im Jahr 2022 zu sehen, weiß Zawadil. Einmal am Tag bekommen sie Hauptfutter. Im Haus für Kleinsäuger, Vögel und Insektivoren der Wilhelma gibt es montags und donnerstags um 14.15 Uhr einen Pflegertalk, bei dem Besucher Fragen stellen können.