Albtraum in der Traumstadt – vor Olympia schnellt in Rio die Zahl der Morde in die Höhe. Sicherheitskräfte schlagen Alarm und demonstrieren.

Rio de Janeiro - Wer dieser Tage per Flugzeug ins Tropenparadies Rio de Janeiro reist, wird schon am Flughafen mit der Protest-Parole „Willkommen in der Hölle“ begrüßt – von streikenden Polizisten, die seit Wochen auf ihr Gehalt warten. Vor sieben Jahren klang das noch ganz anders. Als Rio den Zuschlag für die Spiele 2016 bekam, versprach die Stadt dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) das Blaue vom Himmel herunter. In den Bewerbungsunterlagen kamen die Favelas kaum vor, soziale Probleme wurden heruntergespielt, die Sicherheitslage sei beherrschbar, so der Tenor damals – und der Rest war Palmen, Strand und malerische Sonnenuntergänge.

 

Aber die 85 000 Uniformierten, die Brasilien im August in der Stadt am Zuckerhut zusammenziehen will, verhindern nicht die alltägliche Kriminalität, zumal sie vier Wochen vorher noch gar nicht präsent sind. Und der Bundesstaat Rio de Janeiro, der so groß ist wie Niedersachsen und dessen 17 Millionen Menschen zu zwei Dritteln im Großraum der ehemaligen brasilianischen Hauptstadt leben, ist pleite. Die Gehälter seiner Polizisten, Lehrer, Krankenschwestern werden verspätet und in Raten ausgezahlt – es liegt auf der Hand, dass das die Sicherheit beeinträchtigt.

Eine Ärztin, die auf einer Stadtautobahn unterwegs war, wurde kürzlich mit einem Kopfschuss getötet – ob es ein versuchter Raubüberfall oder ein Auftragsmord war, blieb zunächst im Dunklen. Der Fall der Sportschützin Anna Paula Cotta erregte, vor allem im Ausland, jedoch mehr Aufmerksamkeit, weil die 27-Jährige in Interviews die Sicherheitslage in Rio mit deutlichen Worten kritisierte. Die junge Frau, die als Psychologin bei der Marine arbeitet und noch kurz zuvor an einem Wettkampf des Internationalen Schießsportverbandes in München teilgenommen hatte, war mit dem Auto unterwegs, als Straßenräuber sie zu stoppen versuchten. Um zu entkommen, gab sie Gas. Einer der sechs Schüsse auf ihr Auto traf sie am Kopf. Nach einer Notoperation überlebte sie um Haaresbreite.

Selbst ARD und ZDF wurden schon ausgeraubt

Der Student Diego Vieira Machado wurde am vergangenen Wochenende auf dem Campus der Bundesuniversität Rio ermordet aufgefunden. Die Ermittlungen dauern noch an, aber viel spricht dafür, dass er getötet wurde, weil er homosexuell war. Dass Rio und generell Brasilien ein Paradies für Schwule sei, wird ohnehin durch die hohe Zahl an Übergriffen und den weit verbreiteten Hass auf Homosexuelle dementiert.

Eine australische paraolympische Sportlerin wird in Rio mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt, ähnlich wie drei spanische Sportler kurz vorher. Bewaffnete rauben die Container von ARD und ZDF voller Übertragungstechnik für Olympia, kaum dass sie der Zoll freigegeben hat, auf dem Weg vom Hafen ins Olympiagelände; die Beute wird wenig später aufgefunden. Eine Drogenbande von 20 Mann holt, wild um sich schießend, einen ihrer Bosse aus dem Krankenhaus, der bei seiner Festnahme verletzt worden war. Und als wäre das noch nicht genug, treibt am Postkartenstrand von Copacabana eine verstümmelte Leiche an – was ist das für eine Stadt, in der in vier Wochen die Olympischen Spiele abgehalten werden, die doch dem Frieden und der Völkerverständigung dienen sollen?

Dass vor einem Weltereignis die Weltpresse ganz genau hinschaut, ist normal. Dabei kommt manches, was als Defizit angeprangert wird, mitunter als etwas übertrieben herüber. Zum Beispiel Zika: Die mysteriöse Krankheit hat sich mittlerweile über die halbe Welt verbreitet, und dass Rio im August, also mitten im brasilianischen Winter, besonders stark gefährdet wäre, ist zumindest stark umstritten. Aber die Sicherheitslage erscheint zurzeit nicht nur so bedrohlich, weil die Weltpresse genauer hinsieht. Nach Jahren der Abnahme legt die Kriminalität in Rio wieder deutlich zu. Im Mai wurden den offiziellen Angaben zufolge in Rio 9968 Raubüberfälle angezeigt, 43 Prozent mehr als im April. Und im Bundesstaat kamen zwischen Januar und Mai 2083 Menschen durch Mord und Totschlag ums Leben, knapp 14 Prozent mehr als in den ersten fünf Monaten 2015.

Rios Bürgermeister schiebt die Schuld anderen in die Schuhe

Die Experten rätseln über die Gründe für den rasanten Anstieg; dass die Wirtschaftskrise sich so direkt in der Kriminalitätsstatistik niederschlägt, schließen sie aus. Rios Bürgermeister Eduardo Paes, der früher frotzelte, er sei froh, nicht in so einer langweiligen Stadt wie Zürich zu amtieren, hört sich heute etwas kleinlauter an. Die Kriminalität schiebt er dem Versagen des Bundesstaates Rio in die Schuhe, der die Polizei untersteht – der mache einen „gruseligen, entsetzlichen“ Job, sagte er dem Sender CNN. Und ansonsten relativiert er: Man solle von Rio nicht Verhältnisse wie in London oder New York erwarten. Rio müsse mit Rio verglichen werden, sagte Paes. Das hebt auf die positiven Veränderungen ab, derer sich die Stadt im Zuge der Olympia-Vorbereitungen rühmen kann: die Modernisierung des innerstädtischen Nahverkehrs etwa, oder die „Aufhübschung“ des einst heruntergekommenen Hafenviertels. Dass die Meeresbucht von Rio kaum sauberer ist als vor sieben Jahren, kann Paes dem dafür zuständigen Bundesstaat anlasten, ebenso wie die Probleme bei der U-Bahn, die bestenfalls auf den aller-, allerletzten Drücker fertig wird.

Während andere Städte die Spiele nutzten, um soziale Problemzonen zu sanieren, kann man sich kaum des Eindruckes erwehren, dass in Rio vor allem die Reichen von den Spielen profitieren: Olympia konzentriert sich im Oberklasseviertel Barra, wohin auch die U-Bahn führt. Zehntausende kleine Leute wurden enteignet und umgesiedelt. Olympia als Turbo für die Immobilienspekulation. Die Ärmeren haben nicht viel von dem Sportfest. Einer Umfrage zufolge erwarten 43 Prozent von 2000 befragten Bewohnern verschiedener Favelas, dass nach Olympia die Polizeitruppen wieder abgezogen werden, die in ihren Vierteln mehr oder weniger erfolgreich die Drogenbosse in Schach gehalten haben.