Der Südafrikaner Oscar Pistorius erläuft auf Beinprothesen Goldmedaillen. Doch im Alltag haben viele Behinderte Probleme. Oliver Röhrle, Juniorprofessor an der Universität Stuttgart, forscht mit einer 1,6-Millionen-Förderung an Verbesserungen.

Stuttgart - Das Gebäude ist nur Beton, Stahl und Glas, die Wände schneeweiß, die Böden grauer Estrich und alles eigenartig steril. Man wundert sich, dass es überhaupt schon genutzt wird. Dabei ist es seit dem 8. Dezember 2010 offiziell der Sitz eines der großen Erfolge der Universität Stuttgart in der Exzellenzinitiative: hier, am Pfaffenwaldring in Stuttgart-Vaihingen, sind die Forscher des Exzellenzclusters Simulationstechnik untergebracht.

 

Einer von ihnen hat nicht nur dank der Exzellenzinitiative eine Juniorprofessur bekommen. Unabhängig davon hat ihm kürzlich auch noch der Europäische Forschungsrat (ERC) 1,6 Millionen Euro für fünf Jahre spendiert. „Starting Grant“ heißt das Programm, Starthilfe für vielversprechende Forscher. Und vor einem Jahr hat Oliver Röhrle, gebürtiger Ulmer und gerade noch 39 Jahre alt, zusammen mit einem Kooperationspartner 1,7 Millionen Euro für ein Projekt in der Fraunhofer-Gesellschaft bekommen. Wenn Röhrle seine Geschichte erzählt, dann sagt er schon mal: „Es war auch ein bisschen Glück dabei“, oder er lehnt sich bequem zurück, lacht herzlich in seinem tiefen Bass und sagt: „Best case scenario“. Das ist das ironisch gemeinte Gegenteil eines GAU, des größten anzunehmenden Unfalls.

Am Abend wird die Prothese abgelegt

Oliver Röhrle ist Mathematiker, sein Arbeitsgerät ist der Computer. Und doch hat ihn nach Stuttgart sein Wunsch gebracht, „die Theorie wegzulassen und mehr die Anwendung voranzutreiben“. Um zeigen zu können, woran er arbeitet, hat er zum Gespräch zwei Dinge auf einen Tisch neben seinem Computerarbeitsplatz gelegt: eine klassische Beinprothese und daneben eine moderne Sportprothese. Die hat er sich von einem Kollegen auf dem Vaihinger Campus geliehen. „Bei dem habe ich lange gebraucht, bis ich überhaupt gewusst habe, dass er eine Prothese trägt.“ Heute weiß er mehr: Abends, wenn der Mann nach Hause kommt, ist er erschöpft und nimmt die Prothese ab. Sein Beinstumpf hat Druckstellen. Ins Kino geht er mit zwei Krücken.

Genau das interessiert Röhrle. Von „Stumpf und Schaft“ spricht er. Deren Zusammenspiel möchte er verbessern helfen. Sein Ziel: der Computer soll den Gang eines Menschen simulieren. „Dazu muss man wissen, dass der Muskel letztlich über elektrische Reize gesteuert wird. Das sind die elektromyografischen Signale.“ Außer den EMG-Signalen soll ein Mitarbeiter seiner Arbeitsgruppe auch Ultraschallaufnahmen machen, die die Reaktion des Gewebes und der Knochen zeigen. „Das sind physikalische Größen, die Inputgrößen darstellen sollen für die Simulation.“

Parallel muss die Muskelaktivität mathematisch erfasst werden. Ziel ist, den Bewegungsapparat nicht „wie ein Strichmännchen“ zu simulieren, sondern als dreidimensionales Objekt, „bis wir zum Schluss den ganzen Stumpf und hoffentlich Haut und Fettgewebe hinzunehmen“.

Röhrle betrachtet das als anspruchsvolles Konzept. Der ERC, sagt er, fördert auch Projekte mit ungewissem Ausgang. Er schließt nicht aus, dass fünf Jahre nicht ausreichen. „Es wird aber auf jeden Fall gemacht werden müssen.“ Denn „wenn wir die Haut simulieren können, können wir auch den Kontakt zwischen Haut und Schaft simulieren“. Und nur dann kann er den Orthopäden sagen, wo Druckkräfte oder andere Probleme auftreten können.

Kooperation mit Fraunhofer-Forschern

Diese Orthopäden muss er nicht lange suchen. Am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in der Nobelstraße, unweit von Röhrles Büro, arbeitet der Orthopäde Urs Schneider schon seit mehr als zehn Jahren an der Optimierung von Prothesen. Mit ihm zusammen baut Röhrle mit Mitteln des sogenannten Attract-Programms der Fraunhofer-Gesellschaft ein „Virtual Orthopedic Lab“ auf, ein Labor zur virtuellen Orthopädie. Die Aufgaben bleiben getrennt: die Grundlagenforschung an der Universität, die praktische Entwicklung am Fraunhofer-Institut. „Für mich passt das perfekt zusammen“, sagt Röhrle. Wer weiß, vielleicht werde die Kooperation sogar ganz neue Materialien hervorbringen, die sich besser dem Menschen anpassen. Auf jeden Fall werde seine Simulation den Orthopäden lange Testreihen ersparen. Daimler und VW nutzten Simulation auch, um nicht für alles ein Modell zu bauen.

Aber gibt es überhaupt Bedarf für solche Forschungen? In der kommenden Woche wird der Südafrikaner Oscar Pistorius zum dritten Mal an den Paralympics teilnehmen, den Olympischen Spielen für Behinderte. Der Mann, dem als Kind beide Unterschenkel amputiert worden sind, hat schon aus Athen und Peking Goldmedaillen nach Hause gebracht und ist gerade erst in London bei der Olympiade der Nichtbehinderten mitgelaufen.

Röhrle kennt diese Frage. „Auch ich werde mir jemanden anschauen, der jünger und fitter ist, weil es viel einfacher ist zu testen. Aber die großen Probleme liegen bei der alternden Gesellschaft.“ Grund für siebzig bis achtzig Prozent aller Amputationen seien der Diabetes oder Altersprobleme. „Da gibt es ganz andere Gesichtspunkte. Wie ändern sich Muskelmasse und Fettgewebe? Das ist ja nichts Statisches.“

Ulm, USA, Neuseeland, Stuttgart

Wenn es um Medizin geht, ist Röhrle auf seine Kollegen und Mitarbeiter angewiesen. In diesem Fach ist er Gast. Angefangen hat er mit der Wirtschaftsmathematik in Ulm. Schon damals war sein Schwerpunkt die Numerik, die die Mathematik mit dem Computer verbindet. Aber eine Beratertätigkeit in Anzug und Krawatte habe er sich nicht vorstellen können, sagt der Mann, der es zwar lässig liebt, aber mit seiner hünenhaften Figur und festen Stimme durchaus beeindrucken könnte, wenn er wollte.

Röhrle ging in einem Austauschprogramm vier Jahre nach Milwaukee, USA, bekam dort Kontakt zur Angewandten Mathematik und promovierte vier weitere Jahre in Colorado. Doch in seiner Doktorarbeit war ihm immer noch zu viel Theorie. Über seinen Doktorvater fand er Kontakt zu einem international angesehenen Institut für Biomechanik in Auckland. Das Fliegen liebe er nicht, sagt er, und seine Größe entspreche auch nicht den Maßen der Economy-Klasse. Aber fachliches Interesse und auch ein bisschen Abenteuerlust zogen ihn nach Neuseeland.

Doch schließlich wollte er, der ungebundene Ledige, nach Deutschland zurück. Viele Deutsche im Ausland hätten über ihre Heimat geklagt: „Mir passt dies nicht oder das nicht. Zu bürokratisch. Zu steif. Das kann ich akzeptieren. Aber ich bin nie aus dem Grund weggegangen.“ Er sei gereist, um das zu studieren, was ihm Spaß mache.

In Stuttgart gefällt ihm, dass im Zuge der Exzellenzinitiative mehrere Juniorprofessuren ausgeschrieben worden sind „in Bereichen, die nicht klassisch sind“, wie seinem oder der Biomechanik oder der Systembiologie, „immer an Schnittstellen zwischen Kerngebieten“. Und dass er Prothesen erforscht an einem Institut mit dem Namen „Institut für Mechanik (Bauwesen)“, das verdankt er seinem Chef, dem Lehrstuhlinhaber Wolfgang Ehlers, der sich für Biomechanik interessiere und seine Institutskollegen davon überzeugt habe, eine Stelle dafür umzuwidmen. „Ich glaube, sie waren am Anfang durchaus skeptisch, ob das klappt. Aber ich glaube auch, dass sie positiv überrascht worden sind.“

Viereinhalb Jahre seiner Professur sind vorbei, die Evaluation nach drei Jahren war positiv. Sechs Jahre dauert die Juniorprofessur maximal. Und danach? „Best case scenario“. Er wird eine W3-Professur im gleichen Institut bekommen. „Mich freut es. Stuttgart ist eine super Uni.“