Ditzingen - Der Konkurrent des Nahversorgers auf dem Land sei nicht der Discounter, sondern der Onlinehandel, sagt Christian Maresch von Tante-m. Er hat darauf reagiert.
Herr Maresch, was vergessen Sie bei einem Einkauf gerne mal?
Milch und Kaffeebohnen.
Sie hätten Glück, beides gibt es im Tante-m. Wer kauft hier in der Regel ein?
Die Älteren, an sie denkt man in erster Linie. Sie brauchen einen Nahversorger. Aber wir haben mittlerweile auch junge Familien, die im ländlichen Raum ein Grundstück haben oder sich ein Haus bauen und von dort zur Arbeit fahren.
Also Pendler.
Sie kommen selten bis 18.30 Uhr nach Hause, sondern später. Dann können sie nicht mehr zu den normalen Öffnungszeiten einkaufen. Zwischen 18 und 22 Uhr wird viel eingekauft. Das gleiche gilt für die Zeit morgens vor 7 Uhr. Diese Leute holen nicht nur den Kaffee oder die Brezel. Wir brauchen sie alle als Kunden. Dadurch tut es uns auch nicht weh, wenn zwischen 14 und 16 Uhr niemand kommt.
Die Öffnungszeit hat Einfluss auf die Lebensqualität
Decken Kunden ihren täglichen Bedarf, oder kaufen sie, was vergessen wurde?
Wir haben zunehmend Kunden im sehr ländlichen Bereich, wo es keinen Supermarkt in drei Kilometern Entfernung gibt, die für 20 bis 40 Euro einkaufen. Es sind mehrheitlich die Impulsgüter, auf die man spontan Lust hat, Schokolade oder Eis. Und die vergessenen Waren. Ob man sie vergessene Waren nennen kann, weiß ich nicht. Es trägt ja zur Lebensqualität bei, wenn ich ad hoc einkaufen kann, was ich benötige, und nicht den Wocheneinkauf machen muss.
Warum ist der Spontaneinkauf ein Mehrwert für die Lebensqualität?
Weil die Gesellschaft inzwischen so tickt. Wir wollen immer alles genau dann haben, wenn wir es brauchen. Onlineshopping kann ich jederzeit dann machen, wenn ich Lust dazu habe. Es geht ja auch bei der Essensbestellung in diese Richtung. In anderen Ländern wird das schon viel stärker gemacht. Anstatt für den Wocheneinkauf zu planen, in riesige Supermärkte zu gehen, wo sie von Angeboten überreizt werden, sehnen sich die Menschen wieder nach der Einfachheit und einer Atmosphäre, in der man sich wohl fühlt. Das spielen wir in den Läden wider.
Zur Atmosphäre gehört aber auch das Bedienpersonal, oder nicht?
Für manche sicherlich. Aber es muss ja funktionieren. Nur Atmosphäre macht den Laden nicht wirtschaftlich.
Unternehmer denken profitorientiert.
Der Laden muss sich in erster Line erst einmal tragen. Personalkosten machen das einfach nicht möglich. Im Internet brauche ich auch kein Personal. Mit Personal bin ich eingeschränkt in den Öffnungszeiten. Aber in der Kernzeit Montag bis Freitag, 9 bis 17 Uhr, machen auch wir nicht genügend Umsatz, damit es funktioniert. Wir brauchen die späten Öffnungszeiten. Es geht nicht darum, neumodisch sonntags einkaufen zu können. Ganz entscheidend sind die Öffnungszeiten unter der Woche, zwischen 20 und 22 Uhr.
Gibt es Kritik von anderen Läden?
Wir wollen das, was es gibt, nicht in Frage stellen. Gibt es zum Beispiel noch einen Bäcker oder Metzger am Ort, bieten wir an, ihn mit ins Boot zu nehmen. Er kann seine Waren bei uns zusätzlich verkaufen und hat durch die Öffnungszeiten die Möglichkeit, mehr Kunden anzusprechen.
Für Obst und Gemüse suchen Sie Lieferanten. Es gibt doch Landwirte im Ort.
Obst und Gemüse sind das Schwierigste, das ist nicht nur in Schöckingen so, sondern auch in anderen Orten.
Landwirte reagieren zurückhaltend
Warum?
Diese Frage stellen wir uns auch. Die lokalen Produzenten haben in der Regel, zwei, drei Produkte. Dann haben wir am Ende sieben Lieferanten für die Obst- und Gemüsetheke, das ist ein zu großer bürokratischer Aufwand. Wir versuchen es auf ein, zwei aufzuteilen. Andererseits hört oft das Geschäftsinteresse zumindest bei den Landwirten auf. Sie sind nicht flexibel, um die Chance zu nutzen, einerseits mit den eigenen Produkten reinzukommen, andererseits zusätzlich Anderes zu besorgen. Aber jetzt in der Coronazeit sind die Obst- und Gemüsehändler ohnehin sehr beschäftigt, weil viele Lebensmittel eingekauft werden. Wir hatten einen Händler, der es gemacht hätte, aber keine Kapazitäten mehr hat, also keine Fahrer und keine Fahrzeuge.
Sie werden von Edeka beliefert. Wie groß ist dessen Interesse?
Wir werden von Edeka beliefert, mehr nicht. Das Bewusstsein der Großen zu dezentralisieren ist da. Aber ein Großkonzern, egal, welche Branche, fängt in der Regel nicht an, auf eigene Faust in einer vermeintlich kleinen Nische zu experimentieren. Er lässt jemand anderes experimentieren.
24/7 gibt es aber doch schon, in Bahnhofszentren etwa wie in Renningen.
Das ist in der Regel hochtechnologisiert. Wir machen den Zwischenschritt. Im Grunde sind wir ein begehbarer Automat ohne Barriere. Es gibt ja auch Läden, die nur begehen kann, wer sich vorher registriert hat. Das würde Kundschaft abschrecken und uns auch die Laufkundschaft nehmen. Nicht hier in Schöckingen, aber in anderen Orten liegen wir an einer Durchgangsstraße. Oder auf der Alb, da kommen Tagestouristen vorbei, die wir sonst eben nicht hätten.
Das Konzept Tante-m. Lesen Sie hier, was die Politik in der Region sagt
Wie sehr benötigen Sie die Politik, um die Einkaufsmöglichkeit zu realisieren?
Die Anfragen für neue Standorte kommen zum allergrößten Teil aus Politik und Verwaltung. Es gibt auch aktive Bürger, aber wir gehen dazu über, diese Anfragen zurückzuschicken an die Kommune. Ohne sie machen wir es auch nicht. Wir brauchen sie nicht finanziell, sondern damit es angenommen wird im Ort und uns keine Steine in den Weg gelegt werden. Wir brauchen sie als Sprachrohr in die Bevölkerung. Und es geht auch darum, eine Örtlichkeit zu finden. Die Kommune ist oftmals in Besitz von Immobilien. Was uns zudem angeboten wird wie Sand am Meer, sind geschlossene Bankfilialen. Sie liegen sehr zentral, sind deshalb attraktiv. Die Kommune ist oft Mittelsmann.
Sie brauchen ein Sprachrohr in die Bevölkerung. Tante-m ist also kein Selbstläufer, wenn er erst einmal geöffnet ist?
Jeder Laden bekommt ein Jahr. Wenn er sich nicht bewährt hat, behalten wir uns vor, den Laden wieder zu schließen. Deshalb ist es wichtig, dass die Kommune sich dessen bewusst ist und die Bürger immer wieder stimuliert, das Angebot zu nutzen. Wenn so ein Konzept wirtschaftlich nicht mehr im Ort funktioniert, funktioniert wohl auch nichts anderes mehr, was den Lebensmittelhandel betrifft. Es ist eine Aufgabe der Kommune, diese Botschaft an die Bürger zu transportieren.
Ein Jahr Bewährungsfrist. Das klingt nach Pop-up-Store, deren Lebensdauer von vornherein begrenzt sein kann.
Das ist mein Verständnis von Unternehmertum. Da sind wir in Deutschland immer noch viel zu steif. Die Start-up-Kultur versucht man in den vergangenen Jahren zu unterstützen, aber de facto sind wir immer noch Lichtjahre anderen Ländern hinterher. Ohne es zu probieren, weiß ich nicht, ob es funktioniert. Natürlich ist ein gewisses Risiko dabei. Ich werde auch oft gefragt, wenn es um das Thema Diebstahl geht, ob ich nicht Angst davor hätte. Habe ich Angst davor, kann ich es gleich lassen. Ich brauche Respekt, ich muss abwägen. Von nichts kommt nichts, sagt man. Wenn wir einen Laden im Ort etablieren, mache ich auch nicht ein Jahr lang vorher eine Marktanalyse und eine Bürgerbefragung, sondern für mich ist klar: Da gibt es einen Bedarf. Dann setze ich es lieber zügig um und probiere aus, als ein Jahr in der Theorie zu überlegen, dann etwas zu machen, für das ich mich auf zehn Jahre festlegen muss, dann aber vielleicht wirklich ein Problem habe.
Wo wird sich der Nahversorger Tante-m hinentwickeln?
Wir haben bereits Anfragen aus Städten und arbeiten an Konzepten für diesen Bereich. Je anonymer die Kundschaft, desto mehr Sicherheitstechnik brauchen wir. Wir haben auch hier Sicherheitstechnik, aber es gibt zum Beispiel kein Ausgangstor, aus dem ich nur rauskomme, wenn entsprechend bezahlt ist. Das würde die ältere Kundschaft abschrecken, aber wir wollen ja allen ermöglichen, hier einzukaufen. Ich sehe Tante-m vor allem als möglichst flächendeckenden Nahversorger im ländlichen Bereich.
Ist Tante-m nur der Nahversorger?
Viele Kommunen haben den Wunsch, den Ortskern zu beleben, einen Treffpunkt zu schaffen. Manchmal wird der Wunsch geäußert, ob wir eine Kaffeemaschine aufstellen könnten. In diese Richtung wollen wir im Moment nicht gehen, denn das ist eine Serviceleistung, die man auch unterhalten muss. Aber klar, wir bieten den älteren Menschen wieder ein Ziel für ein tägliche Aufgabe. Sie können selbstständig einkaufen. Wenn sie mit dem Rollator kommen und vielleicht nur beispielsweise eine Gurke kaufen: es ist sinnstiftend. Es ist zufriedenstellend zu sehen, dass man etwas zum Leben beiträgt.
Ein Mann und seine Idee
Der Unternehmer
Christian Maresch ist Bankkaufmann. Doch in der Bank habe er nur wenig mehr als die Ausbildung gemacht, sagt der 40-Jährige aus Pliezhausen (Landkreis Reutlingen). Mit der Umsetzung seiner Idee hatte er im 2019 in Grafenberg (ebenfalls Kreis Reutlingen) begonnen. Man müsse nur mit offenen Augen durch die Welt gehen und könne sehen, wo es welchen Bedarf gebe. Darauf gelte es als Unternehmer zu reagieren.
Die Idee
Im Tante-m kann der Kunde sieben Tage die Woche von 5 bis 23 Uhr einkaufen. Bedienpersonal gibt es nicht. In anderen Ländern ist das Konzept deutlich weiter entwickelt ist. Wie Medien übereinstimmend berichten, hat der Onlineriese in London jetzt europaweit den ersten Supermarkt ohne Kassen eröffnet. Die Ware wird mittels Künstlicher Intelligenz über eine Handyapp gescannt und der Einkaufswert über das Amazonkonto beglichen.
Die Umsetzung
Der Kunde im Tante-m bedient sich, scannt seine Ware und zahlt entweder bar und passend oder per Karte. Der Bargeldumsatz auch in Schöckingen liege bei rund 30 Prozent, sagt Maresch. Temporär anwesendes Servicepersonal füllt unter anderem die Regale auf. Bisher gibt es sieben Filialen, Filialen acht und neun sollen im März eröffnet werden.
Das Angebot
Im Angebot hat Tante-m nach Unternehmensangaben „alles, was man für den Alltag braucht”: Lebensmittel, Milchprodukte, Fleisch und Wurstwaren, Tiefkühlware, Süßigkeiten, Getränke, Drogerieprodukte, Schreibwaren. Vor allem sollen dort frische, regionale Produkte erhältlich sein: frisches Obst und Gemüse sowie Eier und Kartoffeln.