Lage in Gaza Die Hamas hat ihr Renommee verspielt
Gaza ist zerstört. Viele Palästinenser haben den Hamas-Terror mit dem Leben bezahlt. Der 7. Oktober 2023 hat die Lage in Nahost stärker verändert als alles zuvor.
Gaza ist zerstört. Viele Palästinenser haben den Hamas-Terror mit dem Leben bezahlt. Der 7. Oktober 2023 hat die Lage in Nahost stärker verändert als alles zuvor.
Gut zwei Wochen nach dem 7. Oktober 2023 gab Ghazi Hamad ein Interview. Er ist ein hochrangiger Vertreter der Hamas. Der Terrorangriff auf Israel sei nur der Anfang gewesen, sagte er dem libanesischen Sender LBC TV, es werde ein zweites, drittes und viertes Mal geben. „Werden wir einen Preis zahlen müssen? Ja, und wir sind bereit, den Preis zu zahlen“, tönte er. „Man nennt uns eine Nation von Märtyrern, und wir sind stolz darauf, Märtyrer zu opfern.“
Heute, fast zwei Jahre später, melden die Behörden der Hamas beinahe 70 000 Tote in Folge des Gazakrieges – so viele Menschen, wie in Bayreuth oder Dinslaken leben. Die Zahlen der Hamas sind umstritten: Sie unterscheiden nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten, lassen sich nicht unabhängig prüfen. Doch es genügt ein Blick auf das Ausmaß der Zerstörung in Gaza, um zu begreifen, dass die Opferzahl erheblich sein muss.
Vor kurzem gab Hamad ein weiteres Interview, diesmal der CNN. „Übernehmen Sie irgendeine Form von Verantwortung für so viel Tod und Zerstörung?“, fragte der Moderator. Hamad, der im Exil in Doha lebt, wies jegliche Verantwortung von sich. Die Welt habe endlich die Augen geöffnet, „die Brutalität Israels gesehen und Israel verurteilt“, sagte er. „Auf diesen Moment haben wir 77 Jahre lang gewartet.“
Mit seiner Haltung ist Hamad in der Hamas-Führungsriege nicht allein. Dass Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Kanada kürzlich einen palästinensischen Staat anerkannt hätten, sei ein Resultat des 7. Oktobers, behauptete ein weiterer Hamas-Funktionär, Osama Hamdan, kürzlich im libanesischen Fernsehsender Al-Mayadeen.
Wegen seines Vorgehens in Gaza steht Israel im Kreuzfeuer der Kritik. Dabei wird gelegentlich ausgeblendet, dass es die Hamas war, die den Krieg begonnen hat: mit ihrem Massaker an rund 1200 Menschen im Süden Israels und der Entführung von 250 weiteren.
Angesichts der desaströsen Folgen für die Menschen in Gaza ziehen viele Palästinenser eine andere Bilanz aus dem 7. Oktober als die Hamas-Anführer. Umfragen dazu liefert das Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR), ein Forschungsinstitut mit Sitz in Ramallah, das häufig mit der Konrad-Adenauer-Stiftung kooperiert. In der jüngsten Umfrage vom Mai geben 50 Prozent der Befragten in Gaza und dem Westjordanland an, die Entscheidung, Israel am 7. Oktober anzugreifen, sei „korrekt“ gewesen. Auf den ersten Blick mag die Zahl überraschen. Doch im Dezember 2023 hatten sogar 72 Prozent den Angriff befürwortet – die Zustimmung ist also deutlich gesunken. In Gaza, wo die Menschen die Folgen des Angriffs erleben, liegt sie bei 39 Prozent.
Ghaith Al-Omari, ein früherer Berater der Palästinensischen Autonomiebehörde, der heute am Washington Institute für Near East Policy forscht, unterstreicht: „Je näher man an den Gazastreifen kommt, desto mehr hassen die Menschen die Hamas und alles, wofür sie steht.“
Eine weitere Frage der zitierten Umfrage liefert zusätzliche Anhaltspunkte: Nur neun Prozent der Befragten glauben, dass die Hamas überhaupt Gräueltaten an Zivilisten begangen habe. Das mag irritieren angesichts der Tatsache, dass viele Terroristen sich bei dem Massaker selbst gefilmt haben. Allerdings gab eine große Mehrheit der Befragten in früheren Umfragen an, dass sie keines der Videos gesehen hätten.
„Traditionelle arabische Medien haben die Gräueltaten nicht wirklich gezeigt“, sagt Al-Omari. „Insbesondere Al-Jazeera bemüht sich enorm, das Narrativ über die Gräueltaten unglaubwürdig zu machen.“ Auf der Al-Jazeera-Webseite fänden sich nahezu täglich Artikel mit der Botschaft: „Es wurden am 7. Oktober keine Frauen vergewaltigt, niemand wurde geköpft.“
Dazu kommt nach Einschätzung Al-Omaris, dass die Autonomiebehörde unter ihrem Präsidenten Mahmoud Abbas sich lange Zeit weigerte, das Massaker der Hamas zu kritisieren. Abbas veröffentlichte lediglich ein vages Statement, das Gewalt an Zivilisten „von allen Seiten“ verurteilte – wohl in dem Wissen, dass die meisten Palästinenser ohnehin nicht glaubten, die Hamas habe Zivilisten getötet. Erst im Sommer diesen Jahres verurteilte Abbas den Angriff ausdrücklich. „Dass die Rivalen der Hamas lange keine klare moralische Position eingenommen haben, hat es der Hamas erlaubt, das Narrativ zu bestimmen“, meint Al-Omari.
Mehr und mehr Menschen in Gaza erheben ihre Stimme gegen die Hamas – selbst wenn sie dabei brutalste Strafen riskieren. Seit Monaten gehen dort immer wieder Menschen auf die Straße, mal Hunderte, mal Tausende. Auf Videos sind Rufe wie „Hamas raus!“ zu hören. Und auch über soziale Medien äußern sich immer mehr Menschen aus Gaza kritisch über die Hamas, wenngleich häufig anonym.
Zu ihnen gehört eine Frau, die sich „Alaa“ nennt. In vielen ihrer Posts auf der Plattform X attackiert sie Israel, beklagt das israelische Vorgehen in Gaza und das menschliche Leid, zu dem es führt. Kürzlich aber richtete sie harte Worte gegen die Hamas. Die verbuche es als Erfolg, dass es gelungen sei, mit dem 7. Oktober „das palästinensische Anliegen in den Fokus zu rücken”. Alaa dazu: „Ich und die meisten Menschen in Gaza hätten uns gewünscht, unser Anliegen wäre unsichtbar geblieben, hätte das bedeutet, dass wir unsere Häuser und unsere Liebsten hätten behalten können.“ Und weiter: „Bringen internationale Unterstützung und die Anerkennung Palästinas meine Freunde und die Menschen zurück, die ich geliebt habe und die getötet worden sind?“
Der Gazakrieg hat den Nahen Osten stärker verändert als alle Konflikte in den Jahrzehnten davor. Israel ist militärisch und strategisch mächtiger als je zuvor, der Erzgegner Iran wurde gedemütigt, geschwächt. Dennoch läuft in der Region nicht alles so, wie Israel es sich wünscht. Vor dem 7. Oktober herrschte in der Region trotz vieler Krisen, Kämpfe und Kriege ein gewisses Gleichgewicht zwischen Israel und den USA auf der einen und dem Iran mit Verbündeten wie der Hamas und der Hisbollah auf der anderen Seite. Typisch war, dass Katar mit Zustimmung Israels die Hamas mit Geld versorgte – die israelische Regierung erwartete, dass die reich gewordenen Hamas-Chefs keine Lust auf einen neuen Krieg haben würden.
Doch Israel täuschte sich. Die Hamas überraschte die israelische Armee mit dem Angriff am 7. Oktober 2023. Seitdem herrscht Krieg. Der Gazastreifen ist verwüstet. „Die größte Verliererin ist die Zivilbevölkerung Gazas“ , sagt Kristof Kleemann, der das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Region leitet. Israelische Jets, Drohnen und Raketen griffen nicht nur die Hamas im Gazastreifen an, sondern auch im Libanon, im Iran, in Syrien, im Jemen und zuletzt sogar in Katar an. Israels Offensiven warfen das Machtgefüge in der Region über den Haufen. Der Iran habe die meisten seiner ballistischen Raketen verloren und müsse in seinem Atomprogramm einen Rückschlag um mehrere Jahre verkraften, sagt Simon Waldman, Nahost-Experte am King’s College London. Die Hisbollah, einst die wichtigste iranische Waffe im Kampf gegen Israel, sei zerstört, ihre Führung erledigt.
Die Hamas sei nach zwei Jahren Krieg militärisch so geschwächt, dass sie wohl nie wieder die Stärke von vor dem 7. Oktober erreichen werde, meint Waldman. Die ebenfalls iranisch unterstützten Huthis im Jemen greifen Israel zwar immer wieder mit Raketen an. Doch seien sie zu weit entfernt, um Israel wirklich gefährlich werden zu können. Für den Iran waren die beiden Jahre seit Oktober 2023 eine einzige Katastrophe. Die „Achse des Widerstands“, wie Teheran sein Netzwerk aus Verbündeten gegen Israel nennt, liege in Trümmern, bilanziert der Iran-Experte Arash Azizi von der Universität Boston. Teheran fühlt sich inzwischen „machtlos gegenüber Israel und den USA“.