Elisabeth Kauder, Präsidentin der Ärzteorganisation German Doctors, hat vor zweieinhalb Wochen mehrere Flüchtlingscamps in Nordgriechenland besucht. Auch das Camp Idomeni, das nun geräumt wird – und jede Menge Verzweiflung erlebt.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)
Stuttgart - Frau Kauder, in welchem Zustand sind die Flüchtlinge im Lager Idomeni?
Ich bin jedes Jahr in Slums der Dritten Welt unterwegs, gerade in Kalkutta. Die bedrückende Situation in Idomeni ist nicht weit entfernt davon. Wir hatten das Glück, dass es gerade nicht geregnet hat, aber man sah noch die kleinen Gräben, damit das Wasser abfließen kann. Die sanitäre Situation war äußerst dürftig. Die Leute waren in einem sehr verzweifelten Zustand, weil sie alle mit der Hoffnung gekommen waren, dass es schnell weiter geht. Mit Idomeni hatten sie nicht gerechnet.
Haben Sie Verständnis dafür, dass die Menschen bis zur jetzigen Räumung so lange ausgehalten haben?
Dafür habe ich totales Verständnis, weil sie aus einer Lage bodenloser Verzweiflung kommen. Gerade die Syrer sind aus nackter Angst vor Bombenhagel geflohen. Und junge Männer haben mir gesagt: Wir haben die Wahl, in die Assad-Armee zu gehen oder zum Islamischen Staat. Da bleibt nur die Flucht – das habe ich verstanden. Aber alle haben mir auch gesagt, dass sie wieder zurückkehren wollen, wenn in ihrer Heimat Frieden herrscht.
Halten Sie die Räumung dennoch für notwendig?
Ich glaube schon, weil die Verhältnisse in Idomeni total ungeordnet sind. Da hat sich ein kleiner Handel gebildet – und natürlich gibt es keine Notsituation, aus der nicht irgendjemand seinen Profit schlägt. Ich habe mehrfach gehört, dass junge Flüchtlinge gesagt haben: Wenn sich hier nichts ändert, dann versuchen wir es noch mal mit der Flucht und geben notfalls Organe her. Die sind bereit, zum Beispiel eine Niere zu verkaufen, um an das Geld für irgendeinen illegalen Schlepper zu kommen.
Es gibt selbst Drogenhandel und Prostitution?
Das geht auch in diese Richtung. Ich selbst bin am Eisenbahnwaggon, wo es Prostitution gibt, nicht vorbeigekommen. Aber das liegt nicht außerhalb der Erfahrung, dass Frauen in großer Not ihren Körper verkaufen – das erlebe ich in Indien auch. Die Menschen werden sonst nicht mal satt.
Geht es nicht auch darum, mit der Räumung die Not der Flüchtlinge weniger sichtbar zu machen?
Ob das eine Motivation sein kann, weiß ich nicht. Immerhin sind die Lager, die ich gesehen habe und die von der Armee betrieben werden, in einem eindeutig besseren Zustand. Wobei es für die Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet auch ein Problem ist, wenn sie ständig Soldaten herumlaufen sehen.