Oprah Winfrey ist viel mehr als nur die berühmteste US-Talkmasterin: Sie ist eine Art Hohepriesterin der Nation – und ihre Show Erbauungsfernsehen in Reinform.

E s wird über kaum etwas anderes gesprochen in den USA in diesen Tagen, als über Lance Armstrong. Weder der andauernde Streit um schärfere Waffengesetze noch die Schuldenkrise vermochten sein Doping-Geständnis gegenüber der Talk-Queen Oprah Winfrey zum Wochenbeginn aus den Schlagzeilen zu verdrängen. Das Interview, das am Montag aufgezeichnet wurde und am Donnerstag- und Freitagabend auf Sendung geht, wird als TV-Ereignis des Jahres, wenn nicht gar des Jahrzehnts hoch gejazzt. Oprah, die schon mit Michael Jackson, Michelle Obama, Madonna und Bill Clinton geplaudert hat, nannte es „das wichtigste Interview ihres Lebens“ und zeigt es deshalb auf ihrem Kabelkanal Oprah Winfrey Network (OWN) auch gleich in voller Länge als Zweiteiler.

 

Ein nicht ganz nebensächliches Detail geriet bei all dem Getöse jedoch aus dem Blick. Entgegen der quotenfördernden PR-Kampagne von Oprah Winfreys in jüngster Zeit kränkelndem Sender OWN war die Beichtmutter der Nation gar nicht diejenige, der sich der gefallene Star als erstes anvertraute. Schon vor Weihnachten hatte sich Armstrong mit dem Chef der amerikanischen Anti-Doping Agentur USADA, Travis Tygart, getroffen und zugegeben, dass seine gesamte Karriere chemisch unterstützt war.

Doch das Treffen verlief, anders als das von dem Interview mit Winfrey zu erwarten ist, nicht eben kuschelig. Es endete vielmehr damit, dass Armstrong den Anti-Doping-Chef Tygart beschimpfte und aus dem Raum stürmte. Tygart mag die Macht haben, über Armstrongs sportliche Zukunft zu entscheiden – als moralische Instanz erkennt Armstrong ihn jedoch nicht an. Für einen wie Armstrong, einen A-Listen Prominenten, gibt es in den USA nur eine Institution, der es zusteht, die Beichte abzunehmen und somit den Grundstein für einen gesellschaftlichen Neuanfang zu legen: Oprah Winfrey.

Ihre zutiefst amerikanische Botschaft: Du kannst besser werden!

Winfrey ist viel mehr als nur eine Talkmasterin. Schon vor elf Jahren beschrieb die Zeitschrift „Christianity Today“ die Starmoderatorin als eine der wichtigsten spirituellen Anführerinnen der Nation. So leitete Winfrey unmittelbar nach dem 11. September einen interkonfessionellen Gottesdienst in New York, den Zehntausende besuchten und Millionen am Fernsehapparat verfolgten. Eine geeignetere Hohepriesterin war nicht zu finden im post-konfessionellen Amerika, auf Oprah konnten sich alle einigen, als es um geistliche Orientierung ging.

In Zeiten einer postmodernen Spiritualität, hieß es in „Christianity Today“, habe Winfrey den Platz eingenommen, den in traditionellen Gesellschaften die Staatskirche besetze. Keine einzelne Religion habe derartig großen Einfluss auf die Seele der Nation. Oprah schaffe es, Elemente des Hinduismus, Buddhismus und des evangelikalen Christentums zu einem „amorphen“ gnostischen Gemenge zu verrühren, mit dem jeder sich identifizieren könne und das ein tiefes Bedürfnis in der Kultur stille.

Ihre zutiefst amerikanische Botschaft der unermüdlichen Selbstverbesserung transportiert Oprah über ihr gigantisches Medienimperium, das ihren eigenen Fernsehsender, eine Zeitschrift sowie ein philanthropisches Großunternehmen, das Angel Network, umfasst. Kern und Ursprung der Oprah-Welt bildet jedoch ihre Talkshow, über mehr als 25 Jahre die erfolgreichste Sendung im US-Fernsehen. Erst als Oprah Winfrey 2011 die großen Sendenetzwerke verließ und ihren eigenen Kabelsender OWN gründete, begann die Quote abzugleiten.

Wer vom rechten Weg abgekommen ist, geht zu Oprah

Die Show ist Erbauungsfernsehen in Reinform, ihr erklärtes Ziel ist es, „das Leben der Menschen zu verändern, Leute dazu zu bringen, sich anders zu begreifen und Glück sowie Erfüllung in jedes Heim zu bringen.“ Im Zentrum steht dabei stets eine öffentliche Person, die es geschafft hat, ihr Leben zum Besseren zu wenden, oder zumindest den Wunsch danach äußert. Ihr Beispiel soll die Millionen dazu inspirieren, ihre eigene Existenz zu erneuern. Vehikel dazu ist die Beichte, ganz in der christlichen Tradition, die die TV-Moderatorin zum Kult entwickelt hat.

Jeder, der vom rechten Weg abgekommen ist und nach Vergebung sucht, geht zu Oprah, Lance Armstrong ist da bei weitem nicht der erste. Bill Clinton sprach über seine Verfehlungen im Oval Office mit Oprah, Michael Jackson gestand ihr, sich die Haut gebleicht zu haben. Ellen De Generes suchte sich Oprahs Couch für ihr Coming Out aus, Whitney Houston breitete die Details ihrer Drogenehe vor ihr aus, die Leichtathletin Marion Jones suchte bei ihr um Ablass, weil sie sich zu ihren Olympiasiegen gespritzt hatte, und der Schauspieler Tom Cruise verkündete auf Oprahs Sofa auf und ab hüpfend seine Verlobung mit Katie Holmes.

Die Offenherzigkeit ihrer Gegenüber sichert sich Oprah Winfrey mit ihrer eigenen Wahrhaftigkeit. Die Moderatorin machte nie einen Hehl aus ihrer eigenen Vergangenheit und ihrem eigenen Ringen mit dem Leben. Die 48-Jährige wurde als Tochter einer armen, alleinerziehenden Mutter in Mississippi aufgezogen. Als sie acht Jahre alt war, begannen Onkel und Freunde ihrer Mutter sie sexuell zu missbrauchen. Mit dreizehn hatte sie eine Fehlgeburt und lief davon – zu ihrem Vater, der sie im Stich gelassen hatte. Diese Leiderfahrung wie auch ihr permanenter, öffentlich ausgetragener Kampf mit dem Übergewicht ist zentrales Element ihrer Selbstinszenierung. Sie gibt ihren Interviewpartnern stets das Gefühl, dass sie deren Schmerz versteht. Bei Oprah bekommt jeder eine Umarmung und die Chance auf einen Neubeginn.

Das ist nun auch die letzte Hoffnung von Lance Armstrong. Und vielleicht geht seine Rechnung ja sogar auf. Denn sicher wird Oprah Winfrey anders als Travis Tygart keine allzu bohrenden Fragen über das professionell organisierte kriminelle System gestellt haben, das Armstrong anführte. Oprah Winfrey geht es um die Rettung von Seelen, nicht um Abrechnung. Wenn Armstrong es am Montag über sich gebracht hat, auch nur einen Anflug von Reue durchschimmern zu lassen, hat er die Chance, die Reste seines Images als Heiland der Krebskranken zu retten. Dem Radsport, den betrogenen Fans und Sponsoren und den über Jahre eingeschüchterten Kritikern Armstrongs nützt das freilich nicht viel.