Reichen die Milliarden der Stromkonzerne für den Rückbau der Atommeiler? das untersucht derzeit ein im Südwesten bekannter Gutachter. Das Land fürchtet, ewig für die Kosten bei der EnBW haften zu müssen – und wehrt sich.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - In der Landespolitik hat es Professor Martin Jonas zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer von der Düsseldorfer Prüfungsgesellschaft Warth & Klein Grant Thornton war es, der im Auftrag des Finanz- und Wirtschaftsministeriums den Wert des Energiekonzerns EnBW beim Rückkauf Ende 2010 ermittelt hatte. Sein Ergebnis: der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) habe für die Aktien 834 Millionen Euro zu viel bezahlt.

 

Genau diesen Betrag fordert das Land auf der Basis von Jonas’ Gutachten per Schiedsklage von der Électricité de France (EdF) zurück. Andere Experten und die Opposition hatten den Abschlag massiv angezweifelt, doch ein Gutachter der Staatsanwaltschaft errechnete fast den gleichen Wert. Mit Spannung wird das Urteil des internationalen Schiedsgerichts erwartet, das seit mehr als drei Jahren mit dem Fall befasst ist.

Reichen die Rücklagen?

Nun sitzt Jonas wieder an einem brisanten Gutachten, das unter anderem die EnBW betrifft. Im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums betreut er, zusammen mit einer Kollegin, den „Stresstest“ zu den Atomrückstellungen. Was dürfte der Rückbau der Kernkraftwerke eines Tages kosten? Welche Folgekosten verursacht die Endlagerung des Atommülls? Reichen die fast 40 Milliarden Euro aus, die die Energiekonzerne dafür insgesamt zurücklegen? Um solche Fragen geht es in der Expertise für Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD).

Offiziell liegt das für den Herbst angekündigte Papier zwar noch nicht vor, doch Mitte September waren bereits alarmierende Zwischenergebnisse durchgesickert: Der Atomausstieg könne um bis zu 30 Milliarden Euro teurer werden als kalkuliert, hieß es, die Rücklagen würden demnach bei Weitem nicht ausreichen. Gabriel gab sich ahnungslos und sprach von „unverantwortlichen Spekulationen“, die Energieversorger verwiesen auf ihre streng geprüften Bilanzen und bezweifelten die Zahl – doch es half nichts: Die Aktien von Eon, RWE & Co. gingen auf Talfahrt.

Auch EnBW-Aktien im Sinkflug

Auch die EnBW-Anteile, von Mappus zu 40 Euro zuzüglich Dividende erworben, erreichten dieser Tage ein neues Tief nahe 22 Euro (siehe Grafik). Da die Landesgesellschaft Neckarpri und die oberschwäbischen Landkreise im Zweckverband OEW das Gros der Aktien halten, ist der Börsenkurs indes nur bedingt aussagekräftig.

Ein zentraler Punkt für die Gutachter ist der Zins, den die Konzerne den Rückstellungen zugrunde legen. Wie realistisch sind die Sätze von bis zu 4,8 Prozent, mit denen etwa EnBW kalkuliert? Auch da fordert die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank ihren Tribut. Für das Jahr 2013 rechneten die Karlsruher noch mit fünf Prozent, infolge der Senkung mussten sie ihre Rückstellungen 2014 um 250 Millionen Euro erhöhen; binnen drei Jahren summierten sich die Zusatzbelastungen schon auf 800 Millionen Euro. Angesichts des gleichen Problems bei den Pensionslasten falle es ohne ein Gegensteuern der Politik immer schwerer, noch eine Dividende auszuschütten, wurde EnBW-intern gewarnt. Atomkraftkritiker wie die Aktion „ausgestrahlt“ fordern mit Verweis auf die drohende Lücke ohnehin, die Konzerne sollten die Zahlungen an die Aktionäre stoppen. Das träfe vor allem das Land: Es finanziert mit der Dividende die Zinsen für die unter Mappus aufgenommenen Milliardenanleihen.

„Eltern haften für ihre Kinder“

Zusätzliche Sorgen bereiten dem Land und den OEW-Landkreisen nun Pläne des   Bundeswirtschaftsministeriums, die „Nachhaftung“ für die Atomlasten zu sichern. Das Ziel: die Konzerne sollen sich nicht aus der Verantwortung stehlen können, indem sie etwa den Kernkraftbereich abspalten. „Eltern haften für ihre Kinder“, nannte Gabriel das salopp. „Beherrschende Unternehmen“ sollen nach einem Referentenentwurf aus seinem Haus daher unbefristet für atomare Altlasten geradestehen. Als solche, fürchtet man – alarmiert von EnBW-Juristen – in Stuttgart und Oberschwaben, könnten auch die Großaktionäre Neckarpri und OEW eingestuft werden. Beide betreiben derzeit intensive Lobbyarbeit, um eine solche „ewige“ Haftung für die öffentliche Hand abzuwehren.

Im bisherigen Umfang akzeptiere man die Haftung der Energieversorger uneingeschränkt, versichert die OEW-Geschäftsführerin Barbara Endriss. Der Entwurf gehe aber weit darüber hinaus. Daher müsse es eine Korrektur geben, die man „von der Regierung und den sie tragenden Fraktionen einfordern“ werde. Auch Landeswirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) versucht seinen Parteifreund Gabriel noch umzustimmen. Es könne nicht sein, dass die Steuerzahler für die atomaren Altlasten bei der EnBW „in letzter Instanz haften müssen“, heißt es in einem Brief der Landesregierung nach Berlin. Genau das soll die Novelle ja eigentlich verhindern – die Sondersituation bei der EnBW war dabei offenbar nicht bedacht worden. Inzwischen gibt es erste Anzeichen, dass die Sorgen der Baden-Württemberger in der Hauptstadt erhört werden. Die für diese Woche geplante Beratung des Gesetzentwurfes im Kabinett wurde auf nächste verschoben – es wird also wohl noch daran gefeilt.