Exklusiv Zahlt das Land hundert oder gar Hunderte Millionen Euro zu viel an die Bahn? Das Verkehrsressort stellt den Nahverkehrsvertrag mit der DB Regio auf den Prüfstand – und behält schon einmal viele Millionen ein.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Winfried Hermann (Grüne) drehte den Spieß um. Wieder einmal musste sich der Verkehrsminister im Landtag gegen Kritik der CDU verteidigen, weil er sich bei der Neuausschreibung des Schienenverkehrs von externen Gutachtern beraten lässt. „Der eigentliche Skandal“, erwiderte er empört, sei der von der schwarz-gelben Regierung 2003 geschlossene geltende große Verkehrsvertrag mit der Deutschen Bahn (DB). Das „bescheidene Papierchen“ – er hielt eine dünne Mappe hoch – sei der im Bundesvergleich „mit Abstand schlechteste und schwierigste Vertrag“ und für das Land „sehr teuer“. Man lasse gerade prüfen, wie viel Baden-Württemberg zu viel bezahle.

 

Was Hermann in der Debatte Ende Mai nicht erwähnte: Hinter den Kulissen liefert sich sein Ministerium mit der Bahn bereits seit Monaten einen handfesten Streit um den noch bis 2016 laufenden Vertrag. Mehr als hundert Millionen Euro zahle man über die Gesamtzeit auf jeden Fall zu viel, meinen seine Experten, wahrscheinlich seien es sogar 100 Millionen jährlich und somit in Summe rund eine Milliarde Euro. Intern ist von „Wucher“ und „sittenwidrigen“ Konditionen die Rede, von möglichen Verstößen gegen Beihilferegeln, Preisrecht oder Vergabevorschriften. Zweistellige Millionenbeträge hat das Land bereits einbehalten, im äußersten Fall, heißt es, könnte der Kontrakt für nichtig erklärt werden. Offiziell schweigt Hermann bisher.

Das Geheimnis der „doppelten Dynamisierung“

Bereits 2012 waren die Ministerialen auf eine Merkwürdigkeit in dem Verkehrsvertrag gestoßen: Kostensteigerungen für die Nutzung der Infrastruktur, so ihr Befund, würden der DB Regio gleich zweifach ausgeglichen. Einerseits gebe es einen pauschalen Zuschlag von jährlich 1,5 Prozent, entsprechend der Erhöhung der Regionalisierungsmittel. Von 2007 an sei dann eine Erstattung der tatsächlich anfallenden Mehrkosten vereinbart – doch die 1,5 Prozent würden weiterhin zusätzlich gewährt. Diese „doppelte Dynamisierung“ führe zu einer nicht vertretbaren „Überkompensation“, ließ sich Hermann auch von renommierten Anwälten bestätigten. Ende 2012 zog das Ministerium Konsequenzen: die aus seiner Sicht überbezahlten Millionen wurden von den laufenden Zahlungen abgezogen, seit 2013 werden die Abschläge entsprechend gekürzt. Etwa 70 Millionen Euro wurden so bereits einbehalten, bis zum Vertragsende 2016 will das Land insgesamt 140 Millionen Euro retten.

Die Bahn ist darüber nicht amüsiert. „Ein doppelter Ausgleich von Mehrkosten liegt nach Auffassung der DB nicht vor“, sagte ein Sprecher der StZ. Man bedauere das Vorgehen des Landes und wolle zunächst das interne Schlichtungsverfahren abwarten; dies werde „in Kürze formal abgeschlossen“ sein. Faktisch ist eine Einigung freilich bereits gescheitert: Die Positionen blieben unüberbrückbar, die strittigen Millionenbeträge zahlt das Land weiterhin nicht. Nun könnte die Bahn vor ein ordentliches Gericht ziehen – eine Eskalation, die das ohnehin frostige Verhältnis zum Grünen-geführten Verkehrsressort noch eisiger werden ließe. Ob sie das plant, ließ der DB-Sprecher offen. Einen Hinweis indes gab er: Sollte sich die Rechtauffassung der Bahn am Ende durchsetzen, drohe dem Land wegen dann fälliger Verzugszinsen ein „Millionenschaden“.

Verkehrsclub sieht „signifikant überhöhte Entgelte“

Das Ministerium wappnet sich bereits gegen eine Klage und will gegebenenfalls alle Register ziehen. Schon jetzt läuft vor diesem Hintergrund eine Überprüfung des Verkehrsvertrages unter ökonomischen und rechtlichen Aspekten. Der Zwischenbefund: das Land bezahle jährlich sogar 100 Millionen Euro zu viel an die Bahn – über die Jahre also eine runde Milliarde. Baden-Württemberg, heißt es intern, sei für die DB Regio ein wahrer „Goldesel“.

Auf eine ähnliche Größenordnung kommt der Verkehrsclub Deutschland (VCD). Anfang Juni wandte sich der Landesvorsitzende Matthias Lieb per Brandbrief an Minister Hermann: Im Vergleich zu Bayern, das ebenfalls 2003 einen Verkehrsvertrag mit der Bahn schloss, aber viel stärker auf Wettbewerb setze, zahle Baden-Württemberg eine Milliarde Euro mehr. Der VCD sehe „dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich einer Adjustierung der vertraglichen Regelungen mit DB Regio hin zu angemessenen, aber nicht wie heute signifikant überhöhten Entgelten“. Derzeit, so Lieb, ballten sich „alle Risiken einseitig beim Land“, während allein die Bahn von den Chancen auf Mehrerlöse profitiere.

Müller und Mappus verteidigen den Vertrag

Hat die CDU-geführte Regierung also 2003 einen für das Land höchst nachteiligen Vertrag geschlossen? Der damalige Umwelt- und Verkehrsminister Ulrich Müller (CDU) will davon nichts wissen: „Eingedenk der Rahmenbedingungen“ sei der Kontrakt „auch heute noch als sehr gelungen zu bezeichnen“, sagte er der StZ. „Mangels Wettbewerb“ habe man damals mit der Bahn allerdings „nur begrenzt erfolgreich verhandeln“ können.

Staatssekretär für Verkehr in Müllers Ressort war damals übrigens ein gewisser Stefan Mappus. Über seine Anwälte ließ der Ex-Ministerpräsident ausrichten, er halte die 2003 geschlossene Vereinbarung mit der Bahn für ein „äußerst gelungenes Vertragswerk zum Wohle des Landes Baden-Württemberg“. Allerdings habe ihr Mandant den Vertrag „weder verhandelt bzw. verantwortet noch hat er ihn unterzeichnet“. Seltsam nur: Ausweislich des geheim gehaltenen Vertrages, der dem Südwestrundfunk (SWR) vorliegt, hat Mappus nebst seinem Minister und zwei Bahnvertretern sehr wohl unterschrieben, mit seinem bekannt schwungvollen Schriftzug in violetter Farbe. Für die zuständige Fachabteilung, erinnert sich zudem Müller, sei der Staatssekretär „der erste politische Ansprechpartner“ gewesen.

Mappus beantwortete meist auch die Fragen der damaligen Opposition, die den Verkehrsvertrag schon früh sehr kritisch betrachtete. In einem Antrag vom Juli 2003 (Drucksache 13/2303) ging es bereits um die jetzt umstrittene Dynamisierung: Der Zuschuss des Landes, schrieb Mappus den Grünen, werde jährlich „um 1,5 Prozent dynamisiert“. Von einem doppelten Ausgleich war mit keiner Silbe die Rede.