Die Sozialdemokraten haben am Wochenende ihre Führungskrise im Land fürs Erste gelöst. Doch der Frieden ist fragil. Der tiefere Grund für das Gezerre liegt darin, dass sich die Partei verloren hat. Und dass sie selbst nicht mehr an sich glaubt.

Sindelfingen - Irgendetwas ist schiefgelaufen in der Landes-SPD. Auf dem Parteitag am Samstag kann man das an den Alten erkennen oder – Pardon – den Erfahrenen. Viele von ihnen sind diesmal gekommen, alarmiert von den Nachrichten der vergangenen Tage. Solche wie Helmut Zorell. „Ich versuche zu verstehen, was hier passiert“, seufzt der frühere Sprecher der Landtagsfraktion und von Ministern wie Frieder Birzele oder Katrin Altpeter. Es geht gegen Mittag, Zorell vertritt sich in den Fluren der Sindelfinger Stadthalle die Füße. Dieses mit den Händen zu greifende Misstrauen drinnen in der übervollen Halle schockiert ihn. Claus Schmiedel, der einstige Fraktionschef, wackelt mit dem Kopf. Seit etwa 15 Jahren beobachtet er, dass die Partei in Grüppchen zerfällt, „jeder orientiert sich nur noch an seiner eigenen Truppe“. Albrecht Bregenzer, enger Mitarbeiter Erhard Epplers in vergangenen Tagen der intellektuellen Anstrengung, vermisst das „große Zukunftsthema“, das die Partei zusammenhält. Stattdessen erkennt er viele kleine Minderheitenthemen. Eine fatale Geschichte: „Wenn man kein gemeinsames Ziel mehr hat, verfängt man sich in internen Kämpfen.“

 

In der Halle, ganz vorne, sitzt derweil Eppler vor einem Teller Maultaschen mit Kartoffelsalat. Auch der 92-jährige Übervater der Südwest-SPD hat sich nochmals einen Ruck gegeben. Er geht nicht ans Rednerpult, er hält nicht Hof, aber er ist da. Allein das ist schon eine Botschaft an die Partei: Nehmt euch zusammen, zeigt Haltung, wahrt das Niveau. Eppler ist besorgt. „Was mir nahe geht“, sagt er, „ist, dass uns die Grünen jetzt abservieren.“ Er hält das für eine historische Ungerechtigkeit. War es nicht er, der all das, von dem die Grünen heute zehren, überhaupt erst in die Politik getragen hat: Bewahrung der Schöpfung, Ökologie, Nachhaltigkeit? „Ich wollte ja die SPD mit diesem Thema, ehe es die Grünen gab, an der CDU vorbeiführen.“

Roman Zitzelsberger denkt an Monty Python

In der SPD kommt einiges zusammen. „Die SPD hat ihren historischen Auftrag erfüllt“, sagt einer der Älteren. Das sozialdemokratische Jahrhundert ist zu Ende, aber bedeutet dies zwangsläufig, dass es der SPD nicht mehr bedarf? Wäre nicht gerade die SPD dafür prädestiniert, die Folgen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt zu bedenken? Wäre es nicht Aufgabe der SPD, die Verkehrswende zu gestalten? Mobilität ist ein soziales Thema. Können in Städten nur noch Gut- und Bestverdiener leben, vielleicht Singles in Wohngemeinschaften? Davon ist in Sindelfingen nichts zu hören. Die SPD beschäftigt sich mit sich selbst. Der IG-Metall-Bezirksleiter Roman Zitzelsberger fühlt sich an den Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“ erinnert, in dem sich die Judäische Volksfront und die Volksfront von Judäa sinnfrei bekämpfen. „Ich mache mir große Sorgen um den Zustand unserer Partei“, sagt er. Die SPD beschädige nicht nur sich selbst, sondern auch die Demokratie.

Ein gewaltiger Vorwurf. Aber so geht es weiter bei den etwa 40 Rednern: Geißelung und Selbstgeißelung. Die Europaabgeordnete Evelyne Gebhardt konstatiert: „Wir werden nicht ernst genommen, weil wir total zerstritten sind.“ Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz fordert: „Wir müssen die Dekonstruktion von Führung beenden.“ Der Landtagsabgeordnete Peter Hofelich befindet: „Unser Hauptgegner sind die Grünen. Es besteht die Gefahr, dass sie als linksliberale Volkspartei die SPD ersetzen.“ Eine Delegierte moniert: „Was wir machen, spottet jeder Solidarität.“

Linke und Netzwerker rangeln um Macht und Einfluss

Es sieht so aus, als habe die Partei ein – vielleicht – heilsamer Schrecken erfasst. Der tiefere Grund ist die eigene Orientierungslosigkeit, der äußere Anlass aber liegt in der gescheiterten Mitgliederbefragung über den Landesvorsitz mit all ihren Begleitumständen. Keiner der beiden Kandidaten – Leni Breymaier und Lars Castellucci – erreichte die absolute Mehrheit, die Parteichefin lag mit gerade mal 39 Stimmen vorn – bei 36 000 SPD-Mitgliedern im Südwesten. Breymaier warf folgerichtig das Handtuch, Castellucci sah sich trotz der Niederlage ermutigt, auf dem Parteitag zu kandidieren. In seiner Vorstellungsrede in Sindelfingen sagt er tatsächlich: „Ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, hier nicht zu stehen.“ Dabei hatte der Karlsruher Oberbürgermeister Frank Mentrup kurz zuvor gewarnt: Ein Parteichef, der im Basisvotum hinten lag? Da hätte die Partei ein Problem. Mentrup votiert für Andreas Stoch, den Fraktionschef im Landtag. „Cunctator“ wird er dort genannt, der Zögerer – nach dem römischen Feldherrn Quintus Fabius Maximus Verrucosus, der defensiv, aber letztlich erfolgreich gegen Hannibal focht.

In der SPD rangeln schon lange Linke und Netzwerker um Macht und Einfluss. Nach dem Desaster bei der Landtagswahl 2016 waren die Linken mit Leni Breymaier und deren Generalsekretärin Luisa Boos an die Parteispitze marschiert. Castellucci gilt als Antwort der Netzwerker. Allerdings: Während der Mitgliederbefragung entglitt der innerparteiliche Machtkampf in den sozialen Netzwerken den zivilisatorischen Standards. Die Tübinger Sozialbürgermeisterin Daniela Harsch zog unmittelbar vor dem Parteitag ihre erneute Kandidatur für den Landesvorstand zurück. „Was ich seit einiger Zeit, aber vermehrt in diesen Tagen erlebe, ist ein Streit, der mehr noch ein Hass ist“, schrieb die Unterstützerin Castelluccis auf Facebook. Das gefällt auch Andreas Stoch nicht. Darin liege ein Nachteil von Mitgliederbefragungen: Dass sich „die Lager, die hinter den Kandidaten stehen, voneinander entfernen können“.

Wieder nur ein hauchdünner Vorsprung

Das Castellucci-Lager nennt Stoch einen Taktierer, zwei Tage vor Sindelfingen warf der Fraktionschef doch noch seinen Hut in den Ring. In seiner Bewerbungsrede gibt er den Versöhner: „Für mich ist Politik immer auch Konsens.“ Aber Stoch – vom Typ her eher der Mann, der die Akten und die Fakten kennt – zeigt endlich auch einmal Leidenschaft. Der 49-Jährige legt so viel Timbre in die Stimme wie noch nie in seinem Leben und fuchtelt mit den Fäusten, als kämpfe er gegen einen Dämon. Castelluccis Vorstellungsrede genügt in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht auch verfeinerten Ansprüchen; sie hat ihre gefühligen Momente, ist aber unberührt von Inhalten.

Am Ende beträgt Stochs Vorsprung zarte acht Stimmen. Mit 50,6 Prozent erreicht er hauchdünn die absolute Mehrheit. Castellucci beweist in der Niederlage Haltung: „Ich rufe alle auf, jetzt stehen wir geschlossen hinter dem neuen Landesvorsitzenden Andreas Stoch.“ Ob das hält? Immerhin ist sich die Partei in einem Punkt einig, in ihrer Wut gegen die Bundespartei und Parteichefin Andrea Nahles. Die Parteispitze hatte die Europawahlliste der Südwest-SPD zulasten der Europaabgeordneten Evelyne Gebhardt und Peter Simon verändert. Bei einer Telefonkonferenz mit Nahles am Freitag ging es ruppig zu. Nahles, von einer Bronchitis geplagt, sagte ihren Auftritt in Sindelfingen ab. Dort giftet ein Genosse: „Aus Baden-Württemberg bekommt die keine Stimme mehr.“ Das allerdings klingt nicht nach Neuanfang.