Der Erfolg währte nicht lange – infolge des wachsenden Widerstandes der Wirtschaft müssen die Gewerkschaften um die flächendeckende Wirkung des gesetzlichen Mindestlohns fürchten. Die Verdi-Führung bittet die Basis bereits um Unterstützung.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Die Freude währte nicht lange – mittlerweile müssen die Gewerkschaften immer massivere Angriffe auf den gesetzlichen Mindestlohn abwehren. Verdi-Vize Frank Werneke benennt die Zeit nach Ostern als entscheidende Phase im Ringen um eine Abschwächung des Gesetzes. „Der April ist der Monat, in dem sich alles fügen wird“, sagte er auf der Verdi-Landesbezirkskonferenz in Ulm.

 

Unmut der Gewerkschaften ruft eine Rechtsverordnung des Bundesfinanzministeriums hervor, wonach die von Arbeitgeberverbänden oft gerügte Dokumentationspflicht der Arbeitszeiten für mobiles Arbeiten aufgehoben worden sei. Davon sei zum Beispiel die mobile Pflege tangiert, so der Verdi-Vize. Aber auch für Zeitungszusteller finde der Mindestlohn „praktisch keine Anwendung“. Verstärkt werden die Sorgen durch einen Vorstoß in der Unionsfraktion, wonach die Aufzeichnungspflicht auch für Minijobs entfallen soll. Ferner solle die beim Zoll angesiedelte Finanzkontrolle Schwarzarbeit nach dem Willen der Unionspolitiker „verstärkt gegen Illegale vorgehen“ statt gegen Mindestlohnverstöße, berichtete Werneke.

Im Vorjahr hatte die Bundesregierung noch 1600 zusätzliche Stellen für den Zoll zugesagt. Unlängst deutete Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) aber andere Prioritäten der Kontrolleure an. Der Zoll sei „in keiner Weise auf die Überwachung des Mindestlohns vorbereitet“, beschwerte sich der stellvertretende Verdi-Chef. Man habe darüber mit Schäuble gesprochen, weitere Verabredungen seien getroffen.

Der Koalitionsausschuss berät am 23. April

Bis Ostern will die Regierung mit Sozialpartnern und Verbänden eine Bestandsaufnahme zum Mindestlohn erarbeiten. Der Koalitionsausschuss mit den Spitzen von Union und SPD soll den Sachstandsbericht am 23. April erörtern und könnte bereits eine Aufweichung der Regeln beschließen. Arbeitsministerin Andrea Nahles, die sich ursprünglich bis Sommer Überblick verschaffen wollte, sei zunächst über den Termin nicht informiert, merkte Werneke an.

Ohnehin werden der erfolgsverwöhnten SPD-Ministerin immer mehr Steine in den Weg gelegt. So ermittelt dem Verdi-Vize zufolge derzeit der Bundesrechnungshof gegen die Arbeitsministerin mit dem Vorwurf der Steuerverschwendung. Anlass ist eine Anzeige in Zeitungen und Online-Medien, die einen Stundenzettel zeigt mitsamt der Erläuterung, wie sich die Arbeitszeit erfassen lässt. Laut Ministerium haben die Anzeigen inklusive Konzeption 320 000 Euro gekostet. Es gebe großen Informationsbedarf bei Wirtschaft, Verbänden und Öffentlichkeit hinsichtlich der Dokumentationsauflagen, hieß es zur Begründung.

Umschalten in den Verteidigungsmodus

Die Aufzeichnungspflicht, so stellt Werneke fest, gebe es seit 20 Jahren im Arbeitszeitgesetz. Dennoch würde versucht, Einwände der Arbeitgeber als „Freifahrtschein für Betrug“ umzusetzen. Nach all dem Jubel müssen die Gewerkschaften nun in den Verteidigungsmodus schalten. Eindringlich bat der Verdi-Vize die Basis um Hilfe: Benötigt würden Belege für einen unterlaufenen wie für einen funktionierenden Mindestlohn, „nicht nur eine Negativliste“. „Lasst uns Beispiele zukommen, die sind absolut notwendig“, appellierte er an die betrieblichen Vertreter – kurioserweise, obwohl die Hotline des Gewerkschaftsbundes (DGB) „nicht stillsteht“ und obwohl das Arbeitsministerium auf seiner Rufnummer ähnliche Erfahrungen mache. Erkennbar sei bereits „jede Menge krimineller Energie, um den Mindestlohn zu durchlaufen“.

Eine Vielzahl von Umgehungsversuchen

Nach DGB-Angaben hat der Bundesvorstand schon vielfältige Erkenntnisse gesammelt: So werden Beschäftigten neue Verträge mit reduzierter Arbeitszeit vorgelegt, aber die Arbeit im alten Umfang erwartet. Andernorts werden Zuschläge und Prämien sowie Weihnachts- und Urlaubsgeld in den Grundlohn eingerechnet, um auf die 8,50 Euro pro Stunde zu kommen.

Warte- und Bereitschaftszeiten etwa bei Behindertentransporten oder bei Taxifahrern werden nicht mehr vergütet. Urlaubstage werden auf das gesetzliche Minimum von 24 Tagen reduziert, um höhere Kosten für den Mindestlohn an der Stelle wieder hereinzuholen. Arbeitsverhältnisse werden als Praktika oder Volontariate deklariert, obwohl es sich nicht um Lernverhältnisse handelt. Manche Arbeitgeber zahlen den Mindestlohn einfach nicht und behaupten, für bestimmte Tätigkeiten, Anstellungsverhältnisse wie Minijobs oder Betriebsgrößen gelte er gar nicht.