Die Verfahren zur Umwidmung der riesigen Gleisfläche und das Entfernen von Schienen, Schotter und Bahnbauten braucht sehr viel Zeit. Zu viel, um den kritischen Wohnungsmarkt bald zu entspannen.

Stuttgart - Die Landeshauptstadt wird die heutigen Gleisflächen der Bahn in der Innenstadt im besten Fall voraussichtlich nicht vor dem Jahr 2032 bebauen können. Im schlechtesten Fall muss die Kommune auf die Nutzung der rund 85 Hektar Bauland bis in die Jahre 2035 bis 2037, also noch 15 bis 17 Jahre warten. Diese neue Zeitplanung haben OB Fritz Kuhn, Baubürgermeister Peter Pätzold (beide Grüne) und ein von der Stadt beauftragter Anwalt den Fraktionschefs im Gemeinderat in dieser Woche in einem Hintergrundgespräch offengelegt. Die Fraktionen diskutierten die neue Entwicklung am Donnerstag in ihren turnusmäßigen Sitzungen. „Diese riesige Verzögerung ist ein Schock“, sagt ein Teilnehmer. Die Dimension sei gewaltig. Die Linksfraktion veröffentlichte eine Mitteilung, in der sie den Wohnungsbau als „Phantom“ bezeichnet. Das Projekt Stuttgart 21 stolpere von einem „Desaster“ in das nächste, so die S-21-Gegner.

 

Flächen sollten schon 2024 zur Verfügung stehen

In der Zeitstufenliste Wohnen, der offiziellen Übersicht der Stadt zu ihren baulichen Entwicklungsmöglichkeiten, sind die Flächen im sogenannten Rosensteinviertel zur Bebauung in der Zeitstufenliste 3 bereits von 2024 an und bis 2029 gelistet. Auf den von der Stadt bereits im Jahr 2001 erworbenen Konversionsflächen sollen rund 6000 auch preiswerte Wohnungen entstehen. Der Bedarf ist dringlich.

Der städtebauliche Wettbewerb für das Areal wurde 2019 entschieden, inzwischen ist auch klar, dass die Kommune prägende Bahnbauten wie Gleisbögen, einen Lokschuppen und Überwerfungsbauwerke erhalten, sanieren und teils in einen Park einpassen möchte. Diese Pläne passen nicht zu den 2001 mit der Bahn vereinbarten Modalitäten, alle Eisenbahn-Infrastruktur auf dem Gelände nach der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 – geplant im Dezember 2025 – vollständig bis zu einer definierten Topografie abzuräumen.

Stadt braucht Hilfe der Bahn

Die Stadt muss den Kaufvertrag aus 2001 daher neu verhandeln. Diese Tatsache hat sie in einem Pressepapier mitgeteilt. Kuhn will dem Vernehmen nach vom Gemeinderat in den nächsten drei Wochen die Freigabe für Gespräche mit der Bahn, die „ergebnisoffen und ohne jede Vorfestlegung“ geführt und bis 31. März 2021 abgeschlossen werden sollen. Eine Vorfestlegung ist aber, dass Verzugszinsen, die die Bahn von 2021 an für die verspätete Freimachung der Flächen zahlen soll, zumindest bis Ende März gestundet werden. Die Zinsen belaufen sich auf 11,3 Millionen Euro pro Jahr. Bis 2035 würde demnach ein dreistelliger Millionenbetrag auflaufen. Die Fraktionen befürchten einen harten Verteilungskampf um dieses Geld.

In den Verhandlungen solle nach den Ausführungen der Verwaltungsspitze und des Anwalts erreicht werden, dass verschiedene rechtlich zwingende Verfahren zur Entwidmung der Flächen vom Eisenbahnbetrieb und die Pläne zur Bebauung verzahnt, bestenfalls zusammengelegt und nicht nacheinander abgearbeitet werden. Dazu braucht die Stadt die Bahn AG. Historische Bauten sollen gesichert, die im Planungswettbewerb entwickelte neue Topografie umgesetzt werden. Untersucht werden solle, ob die Stadt an Stelle der Bahn AG beim Abräumen von Gleisen und Schotter selbst tätig werden kann, um Zeit zu sparen. Folgten die Verfahren hintereinander, werde das Gelände nicht vor 2035 oder 2037 frei, bei einem Miteinander von Bahn und Stadt wohl 2032. Allein für die Bebauungsplanverfahren für die Fläche werden rund sechs Jahre angesetzt, so Teilnehmer der Runde. Die Stadt wollte sich auf Anfrage nicht über die Pressemitteilung hinaus zum Sachverhalt äußern, das Thema sei „sensibel“.

Eidechsen als ein Knackpunkt

Eine bedeutende Rolle spielt auf der Fläche auch der Artenschutz. Auf bis zu 50 der 85 Hektar müssten geschützte Eidechsen umgesiedelt werden. Im Stadtgebiet gibt es für sie keine Ausweichflächen, nach außerhalb Stuttgarts dürfen sie nicht umgesiedelt werden. Das erschwert die Freimachung des Geländes stark und könnte zu Klagen und langjährigen Prozessen führen.

Vertreter des Bundes für Umwelt und Naturschutz und des Naturschutzbunds erklärten am Donnerstag auf Anfrage unsere Zeitung, dass man diese nicht grundsätzlich anstrebe. Man erwarte, dass Ausgleichsflächen gefunden würden, auch für sechs Hektar entlang der Platanenallee im Schlossgarten, die nun im Wettbewerb 2019 für Wohnungsbau vorgesehen seien.