Eine Historikerkommission hält nichts von der These, wonach die Länderverwaltungen nach 1933 nichts mehr zu sagen hatten. Wolfram Pyta stellt eine „ideologische Selbstmobilisierung“ der Staatsdiener fest.

Stuttgart - Die Ministerien in Baden und Württemberg sind der NS-Führung im „Dritten Reich“ keineswegs widerwillig gefolgt, sondern haben ihr eilfertig den Weg bereitet. Zu diesem Schluss kommt eine sechsköpfige Historikerkommission, die damit der landläufigen Ansicht widerspricht, wonach die Länderregierungen ab 1933 total „gleichgeschaltet“ worden seien. „Ihre Umwandlung in Werkzeuge der Diktatur war vielmehr ein Prozess der Selbstgleichschaltung der Beamtenschaft und Ausdruck eines kollektiven politischen Opportunismus“, sagte am Montag der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum, der zusammen mit seinem Stuttgarter Kollegen Wolfram Pyta die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorstellte.

 

Zwar hätten die Länder 1934 im Zug der Zentralisierung der Verwaltung ihre Justizministerien verloren. Doch seien die übrigen Ressorts durch die „Verreichlichung“ nicht marginalisiert worden, sondern hätten sich beträchtliche politische Einflussmöglichkeiten erhalten. Pyta: „Die Erzählung, wonach alles in Berlin oder auf dem Obersalzberg entschieden wurde, ist falsch.“ Wolfrum sagte, ab 1934 sei die Zentralisierung wegen Rivalitäten aufs Reichsebene ins Stocken geraten und viele Landesministerien seien deshalb unangetastet geblieben. Die NS-Führung habe es jedenfalls bei punktuellen Eingriffen in den Personalbestand belassen.

Willfährige Helfer

Die Kultus-, Innen- oder Finanzministerien zeigen sich jedenfalls im Spiegel der Quellen nach 1933 als verlässliche Instrumente der NS-Ideologie. In der Schulpolitik etwa seien wichtige Impulse von den Behörden in Stuttgart und Karlsruhe ausgegangen – indem sie zum Beispiel Front gegen die Kirchen machten. Auch an der materiellen Ausplünderung der Juden, an der administrativen Vorbereitung der Deportation und an der Zwangsgermanisierung des Elsaß hätten sie entscheidend mitgewirkt, so das Fazit der Kommission. Neben Pytha und Wolfrum gehörten ihr auch die Historiker Frank Engehausen (Heidelberg), Christiane Kuller (Erlangen), Sylvia Paletschek (Freiburg) und Joachim Scholtyseck (Bonn) an.

Die Erzählung, wonach es etwa in Baden mit seiner Tradition der Revolution von 1848 eine gewisse Resistenz gegen die neuen Machthaber gab, verweisen die Historikers ins Reich der Fabel. „Dissidentes Verhalten“ haben sie jedenfalls nur in Einzelfällen festgestellt. Mindestens drei Viertel aller Ministerialbeamten seien Mitglied der NSDAP gewesen, bilanzierte Pyta, betonte allerdings, dass die bloße Parteimitgliedschaft noch nichts über individuelle Schuld aussage. Man müsse sich jeden Einzelfall ansehen. Dass viele schwer belastete Spitzenbeamte nach dem Krieg ihre Karriere fast bruchlos fortsetzen konnten, ist für die Historiker keine Überraschung, sondern der bundesweite „Normalfall“. Dies könne Thema für eine nachfolgende Untersuchung sein, schlugen die Geschichtswissenschaftler vor.

„Wie hätten wir gehandelt?“

Mit der Arbeit, die 2014 von Wissenschaftsministerin Thersia Bauer initiiert und drei Jahre lang von der Baden-Württemberg-Stiftung finanziert wurde, liegt laut Pyta erstmals eine systematische Untersuchung der Rolle von Landesministerien während der NS-Zeit vor. „Das NS-Regime kam auf Samtpfoten daher, es gab keinen krassen Bruch“, folgerte Bauer aus der Studie. Dies zeige, wie verletzlich die Demokratie sei. Man dürfe nicht glauben, dass es da rote Linien gäbe, die überschritten würden: „Wenn es so mühelos gelingt, das alltägliche Verwaltungshandeln unter den neuen Machthabern anzupassen, dann muss uns das zu denken geben – gerade in einer Zeit, in der die Systemgegner von den Rändern unserer Demokratie her versuchen, Oberwasser zu gewinnen.“ Auch Wolfrum schlug einen Bogen zur Gegenwart: „Wie hätten wir eigentlich gehandelt? Wären wir zum Widerstand gekommen?“

Christoph Dahl, Geschäftsführer der Baden-Württemberg-Stiftung, die das Projekt mit 1,45 Millionen Euro gefördert hat, hält die Forschungsarbeit zur Rolle der Ministerien für unverzichtbar: „Wir können daraus viel für unser demokratisches Handeln und Selbstverständnis lernen.“ Wie das Forschungsresultat zeige, habe sich Opportunismus auch nach dem Krieg noch ausgezahlt. Im Fokus der Recherche standen die Biografien der badischen und württembergischen Ministerialbeamten. Die Aufarbeitung der Quellen wurde begleitet von einem Onlineportal, einem Internet-Blog und einer App, mit denen die Öffentlichkeit den Stand der Forschung verfolgen konnte.