Ministerpräsident Kretschmann löst mit seiner Rede auf dem Landesparteitag in Sindelfingen Jubelstürme aus. Die Sorge ums Klima dämpft die Feierlaune zum 40-jährigen Bestehen des Landesverbandes.

Sindelfingen - Mit einer fulminanten Rede hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Samstag in Sindelfingen die Landesdelegiertenkonferenz seiner Partei eröffnet. Der Parteitag unter dem Motto „Mit Zukunft haben wir Erfahrung“ ist als Jubiläumsfest angelegt, denn vor 40 Jahren wurde der Landesverband der Grünen in Sindelfingen aus der Taufe gehoben.

 

„Wer war damals schon dabei?“ fragte Kretschmann in den mit 200 Delegierten gefüllten großen Saal der Stadthalle Sindelfingen. Es erhob sich lediglich ein Delegierter, der 60-jährige Reiner Gareis aus dem Kreisverband Aalen. Zu einem „rauschenden Fest“, so der ganz in Schwarz gekleidete Kretschmann, sei er angesichts der in diesem Sommer erneut sichtbar werdenden Klimakatastrophe gar nicht in Stimmung. Neben einer kurzen historischen Würdigung der Grünen, die 1979 als „bunter Haufen“ gestartet sei und sich heute als „Stabilitätsfaktor“ in der politischen Landschaft Deutschlands etabliert habe, kam Kretschmann rasch zu seinem Hauptanliegen: dem Klimawandel und dem aus seiner Ansicht nach verfehlten Klimapolitik der Bundesregierung.

Kretschmann ruft zum Kampf gegen Klimawandel auf

Mit dem Hinweis auf das schmelzende Gletschereis in Grönland, dem Auftauen der Permafrostböden sowie die Wald- und Torfbrände in Brasilien und Sibirien warnte Kretschmann „vor einem Kippen des Systems“ in kurzer Zeit. Wie in der Kybernetik brächten die Wirkmechanismen der Erderwärmung neue, sie noch beschleunigende Effekte mit sich. „Es ist nicht fünf vor 12 Uhr, es ist nach 12“, sagte Kretschmann. „Die Wirklichkeit überholt auch unsere Prognosen. Wir haben nur noch wenig Zeit, den Klimakollaps aufzuholen. Das ist die Botschaft diesen Sommers.“

Dass ein Land wie Baden-Württemberg mit einer Bevölkerung von nur elf Millionen Menschen mithelfen kann im Kampf gegen den Klimawandel, davon ist Kretschmann überzeugt. Allein in China und Indien lebten 2,5 Milliarden Menschen, die „auf mehr Wohlstand hoffen“, aber wenn sie alle ihre Wirtschaft „auf fossiler Basis“ betrieben, sei der Klimawandel nicht zu stoppen. Das Industrieland Baden-Württemberg mit seinen Tüftlern habe eine „hohe Verantwortung“ Wege aufzuzeigen für eine nachhaltige Technologie, mit der sich Ökologie und Ökonomie vereinbaren ließen.

Man benötige im Klimaschutz aber eine Ordnungspolitik, die Leitplanken setze, sagte Kretschmann. Es brauche Gebote und Verbote, „auch wenn die CDU uns täglich als Verbotspartei denunziert“. Auch das Christentum habe im übrigen mit den zehn Geboten begonnen. Kretschmann kündigte an, dass die Grünen in Baden-Württemberg die Einführung einer Solaranlagenpflicht bei Neubauten planten.

Scharfe Kritik an der großen Koalition

Mit den Klimabeschlüssen der Großen Koalition ging Kretschmann scharf ins Gericht, wobei er mehrfach von Zwischenapplaus unterbrochen wurde: Die Bepreisung von einer CO2-Tonne mit zehn Euro sei ein „Treppenwitz“, schon die Schweiz bepreise sie mit 80 Euro. So könne die Lenkungsfunktion der Bepreisung nicht funktionieren: „Wenn das Benzin drei Cents teurer wird, dann steigt doch keiner um vom Auto – so stark schwankt der Preis doch schon an einem Tag!“ Dass die Bundespolitik den Protest der jungen Leute von Fridays for Future derart ignoriere, könne zu einer Spaltung der Gesellschaft führen.

Mit einem dritten Thema, dem wachsenden Nationalismus in Europa und Deutschland, schloss Kretschmann seine Rede. Namentlich ging er auf die AfD ein. „Wer andere ausgrenzt, der ist kein Patriot sonder ein heimatloser Gesell’“, sagte Kretschmann. Die Stärkung der Demokratie und die Botschaft für eine offene Gesellschaft gehörten zur „grünen Kernkompetenz“. Identität entstehe nicht durch Abstammung, sondern nur durch Tätigkeit in einer Gemeinschaft – das könne eine Bürgerinitiative, die Freiwillige Feuerwehr oder eine Partei sein. Kretschmann schloss mit den Worten: „Wir sind eine Partei, die sich nie von Niederlagen hat entmutigen lassen. Wir haben nie aufgegeben.“ Das Bild vom Tropfen auf dem heißen Stein gebe es nicht, denn auch aus Tropfen könne ein Strom entstehen.

Grüne Delegierte feiern ihren Frontmann

Delegierte lobten die Rede im Anschluss, da sie gezeigt habe, wie „energiegeladen“ und „kraftvoll“ Kretschmann doch sei. Die Delegierte Nese Erikli aus Konstanz sagte: „Winfried, du bist der richtige Mann für uns.“ Der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir meinte: „Unsere tollen Wahlerfolge und auch die guten Umfragewerte im Bund haben wir dir, Winfried, und auch unserer grünen Arbeit in Baden-Württemberg zu verdanken.“ Der grüne Landesvorsitzende Oliver Hildenbrand sagte, dass die Landes-Grünen im vergangenen Jahr 3800 Mitglieder gewonnen hätten, die Gesamtmitgliederzahl liege jetzt bei 12.800.

Der Parteitag dauert bis Sonntag, auf dem Programm stehen noch die Landesvorstandswahlen sowie Anträge über ein grünes Klimaschutzpaket sowie die Frage, ob die Grünen das Volksbegehren für mehr Artenschutz unterstützen sollten oder nicht. Am Samstagabend feiern die Grünen ihre Jubiläumsparty. Der Parteimitbegründer Reiner Gareis sagte unserer Zeitung, er sei damals – 1979 – dabei gewesen, weil ein Wort des Umweltschützers Herbert Gruhl („Ein Planet wird geplündert“) ihn überzeugt habe: „Die Grünen sind nicht links oder rechts sondern vorne.“