Wohnen gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, verleichbar mit der Arbeit. Die Politik hat das zuletzt weitgehend ignoriert. Zwar sind Luxuswohnungen zu haben, bezahlbarer Wohnraum aber fehlt. Nun will die Landesregierung umsteuern. Wenn sie sich nur immer einig wäre.

Stuttgart - Der Wohnungsbau spielt in der Landespolitik wieder eine Rolle. Keine große zwar, aber gemessen an der Teilnahmslosigkeit, mit der das Thema lange Zeit übergangen worden war, ist die nach der grün-schwarzen Regierungsbildung im vergangenen Jahr ins Leben gerufene Wohnraumallianz ein Fortschritt. Dass der Wohnungsbau überhaupt wieder ins Blickfeld der Politik gerückt ist, hängt mittelbar mit dem jähen Anstieg der Zahl der Flüchtlinge und daraus unmittelbar folgend mit dem Erstarken des Rechtspopulismus – konkret der AfD – zusammen. Dass der absehbare Zugang zusätzlicher Wohnungssuchender auf dem in den Ballungszentren ohnehin erhitzten Immobilienmarkt erhebliches politisches Frustrationspotenzial birgt, wurde spätestens im Herbst 2015 klar. So kam es, dass im Landtagswahlkampf 2016 der Wohnungsmangel wenigstens kursorisch Erwähnung fand.

 

Wie viele Wohnungen fehlen?

Viele. Aber so ganz genau weiß man es nicht. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums beginnen die Schätzungen bei einem jährlichen Bedarf von etwa 50 000 Wohneinheiten. Sigrid Feßler vom Verband baden-württembergischer Wohnungs- und Immobilienunternehmen (VBW) beziffert den Bedarf pro Jahr auf 60 000 bis 75 000 Wohnungen. Gebaut wurde in den vergangenen Jahren aber nur die Hälfte. Für 2015 vermeldet das Statistische Landesamt 33 476 Neubauwohnungen in neuen Wohngebäuden, dazu kommen etliche Wohnungen in Nichtwohngebäuden (zum Beispiel in Geschäftshäusern) oder solche, die mittels Umbauten generiert wurden. In toto waren es demnach 37 686. Im Jahr zuvor lag die Zahl der fertiggestellten Wohnungen bei insgesamt 35 571, im Jahr 2013 waren es alles in allem 31 790. Der Nachkriegstiefstand war 2010 mit 24 380 Wohnungen zu beobachten. Die 2011 ins Amt gekommene grün-rote Landesregierung steuerte nur sachte um. Immerhin steigt die Zahl der Baugenehmigungen wieder. 2016 waren es um die 45 000.

Und wie sieht es bei Sozialwohnungen aus?

Vor allem fehlt es an bezahlbaren Wohnungen. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums gab es 2014 noch 63 197 gebundene Mietwohnungen im Land (plus zusätzlich 2969 rein kommunal geförderte Mietwohnungen), derzeit sind es 54 415 (plus 2898 kommunale), bis 2030 werden 38 657 (plus 799 kommunale) prognostiziert. Immer mehr Sozialwohnungen fallen aus der Mietbindung – laut Wirtschaftsministerium allein in diesem Jahr fast 3000 Wohneinheiten, 2018/19/20 mehr als 7000 Wohneinheiten und von 2021 bis Ende 2025 erneut 6300 Wohneinheiten.

Warum fehlen so viele Wohnungen?

Soweit die Verantwortung der Landespolitik berührt ist, mag eine Rolle spielen, dass die Wohnungsnot vor allem ein Thema der Ballungsräume ist. Baden-Württemberg aber wird aus der Fläche heraus regiert. Überhaupt handelt es sich bei der Wohnungsnot für die Spitzen von Politik und Verwaltung um ein Phänomen, das sie aus eigener Betroffenheit kaum kennen. Dazu kommt, dass der Wohnungsbedarf in Erwartung einer abnehmenden Bevölkerung unterschätzt wurde. Rolf Gaßmann, der Vorsitzende des Mietervereins Stuttgart, sagt: „Die Prognosen der vergangenen Jahre lagen vollkommen daneben.“ Nicht die Demografie bestimme die Nachfrage nach Wohnungen, sondern die Wirtschaftsentwicklung. Es sei schon richtig: Die Zahl der Älteren nehme zu. „Aber die Rentner bleiben erst einmal in ihrer Wohnung“, sagt Gaßmann. In den Unternehmen rückten an deren Stelle Zuzügler, die umgehend ein Dach über dem Kopf benötigen. Laut dem Statistischen Landesamt könnte die Einwohnerzahl des Landes bis zum Jahr 2024 um etwa 420 000 auf dann etwas mehr als 11,1 Millionen Einwohner ansteigen.

Wo liegen die Probleme?

Sigrid Feßler vom VBW sagt, die reinen Baukosten seien in den vergangenen 15 Jahren um die Hälfte gestiegen. Zudem fehlt Bauland. Um den Flächenverbrauch zu begrenzen, setzten die Kommunen zuletzt verstärkt auf die Innenentwicklung. Doch in Stuttgart, wo die Not besonders groß ist, in der kommunalpolitischen Diskussion aber immer der Erhalt der Frischluftschneisen im Vordergrund stand, „wird Innenverdichtung nicht reichen“. Das meint zumindest Rolf Gaßmann vom Mieterverein. „Die sture Festlegung auf Innenentwicklung halte ich für problematisch.“ Reutlingens Oberbürgermeisterin Barbara Bosch berichtet, in ihrer Stadt sei das Thema, zumindest was Flächen im Eigentum der Kommune angeht, ausgereizt. Sigrid Feßler vom VBW appelliert an die Kommunen, neue Flächen auszuweisen, diese nicht nach dem Höchstpreisverfahren, sondern nach dem Konzeptverfahren (es gewinnt der Bewerber mit der besten Idee) zu vergeben und schließlich auch Geschosswohnungsbau zuzulassen. Größere Wohnanlagen, gar mit Sozialwohnungen, sind in kleineren Städten immer noch unpopulär. Man will keine vermeintlichen Ghettos und in sein halbländliches Idyll in Großstadtrandlage keine wirtschaftlich schwache Klientel locken. Dabei erreicht das Land in seinem neuen Förderprogramm „Wohnungsbau 2017“ durchaus die Mitte der Gesellschaft. Die Einkommensobergrenze bei der sozialen Mietraumförderung liegt jetzt für eine Familie mit zwei Kindern bei 65 000 Euro im Jahr. Die Flucht der Großstadtbewohner ins Umland vermehrt allerdings die Pendlerströme.

Was tut die Landesregierung?

Grüne und CDU vereinbarten in ihrem Koalitionsvertrag, eine Wohnraumallianz zu gründen. In diesem Gremium beschäftigt sich eine halbe Hundertschaft von Fachleuten aus Wohnungswirtschaft, Kommunalverbänden, Banken sowie Natur- und Umweltverbänden in vier Arbeitsgruppen mit Fragen der Baufinanzierung, des Bauplanungsrechts einschließlich der Flächengewinnung, des Bauordnungsrechts sowie des Miet- und Wohnungsrechts. Im Dezember legte die Allianz ein Papier mit Empfehlungen vor.

Wo gibt es Differenzen?

In den vier Arbeitsgruppen der Wohnraumallianz ist inzwischen vieles einvernehmlich besprochen worden. Eine politische Blockade zeichnet sich allerdings bei der Flexibilisierung der Landesbauordnung ab. „Die Grünen wollen ihr Gesicht nicht verlieren“, sagt Mietervereins-Chef Gaßmann. Es geht um einige Vorschriften, die in der vergangenen Legislaturperiode unter der Ägide von Winfried Hermann, damals als Infrastrukturminister in der Sache zuständig, erlassen wurden und seinerzeit einigen Wirbel verursachten. Dazu zählt etwa die Bestimmung, für jede neu gebaute Wohnung zwei wettergeschützte, diebstahlgesicherte und ebenerdige Fahrradabstellplätze zu schaffen. Auch das Fassadengrün bei Fehlen ausreichender Grünflächen gehört dazu. Sigrid Feßler vom VBW nennt diese Regelungen „wenig hilfreich, da sie das Bauen verteuern“. Gerade das Erfordernis der Radabstellplätze führe zu erheblichen Mehrkosten, zudem steige der Flächenverbrauch. Bei einem Haus mit acht Wohnungen sei ein Raum von mindestens 32 Quadratmetern für die Radunterbringung vorzuhalten. Bei der Begrünung entstünden Folgekosten durch die Pflege und Instandhaltung, die zulasten der Mieter gingen.

Und was sagt die Politik?

Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) sagt: „Die Entschlackung der Landesbauordnung ist und bleibt ein wichtiger Hebel, um mehr Wohnraum im Land zu ermöglichen.“ Sie appelliert an die Grünen: „Man kann nicht in Sonntagsreden die Erleichterung des Wohnungsbaus fordern und auf der anderen Seite genau dies verhindern.“ Die Grünen-Abgeordnete Susanne Bay, wohnungsbaupolitische Sprecherin der Landtagsfraktion, hält dagegen: „Wir bauen heute die Wohnungen für morgen.“ Deshalb sei es wichtig, nicht nur von vernetzter Mobilität zu reden, sondern diese etwa auch mit praxistauglichen Fahrradstellplätzen zu fördern. Ebenso sei es angesichts der Alterung der Gesellschaft angezeigt, barrierefrei zu bauen. Das von Franz Untersteller (Grüne) geführte Umweltministerium bestreitet, dass hohe Immobilienpreise „auf den kritisierten ökologischen Standards beruhen“. Der Wunsch nach dem schnellen Bau von Wohnungen dürfe „nicht dazu führen, dass wichtige Umweltstandards, die aus gutem Grund eingeführt wurden, künftig keine Rolle mehr spielen“. Die BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender warnt: „Es rufen jetzt alle nach Baugebieten in den kommunalen Außengebieten. Aber dann wiederholen wir das Desaster der 1970er Jahre und bauen soziale Brennpunkte.“